Meinung

Bürgergeld-Empörung – Eine unwürdige Debatte um den ökonomischen Nutzen lohnabhängiger Menschen

Die Empörung über gut 50 Euro mehr Hartz IV alias "Bürgergeld" reißt auch in Teilen der Bevölkerung nicht ab. Doch der oberflächlich um Faulheit, Fleiß und Gerechtigkeit kreisende Streit ist in Wahrheit eine Herrschaftsdebatte – um die wirtschaftliche Verwertbarkeit von Menschen.
Bürgergeld-Empörung – Eine unwürdige Debatte um den ökonomischen Nutzen lohnabhängiger MenschenQuelle: www.globallookpress.com © MÃ�ller-Stauffenberg, via www.imago-images.de

Von Susan Bonath

Steinreiche Großaktionäre, die ihre Milliarden-Vermögen ungezählten "Billiglöhnern" verdanken, Politiker mit teils siebenstelligen Nebeneinkünften im puren Luxus, die wenig fürs gemeine Volk übrig haben: Wer sich hierzulande exorbitanten Reichtum auf Kosten der Mehrheit anhäuft, dürfte klar sein. Und doch zofft sich die Bevölkerung um ein paar Euro mehr "Hunger-Hartz", umbenannt in "Bürgergeld", für "die da unten", zusätzlich getriggert diesmal vom CDU/CSU-AfD-Gespann. Arbeiten lohne sich dann wohl nicht mehr, so deren Argument. Die in Krisen altbekannte, kapitalkonforme Nützlichkeitsdebatte kocht auf Hochtouren.

Was weder Schwarz-Blau noch die bunte "Ampel" dabei erwähnen: Rund acht Millionen Menschen arbeiten inzwischen in Deutschland im – vor allem durch die Einführung von Hartz IV – dauerboomenden Niedriglohnsektor. Angesichts der steigenden Inflation vor allem bei den Grundbedarfen Essen und Energie ist der Mindestlohn von (seit Oktober) zwölf Euro pro Stunde ein Witz. Er reicht immer weniger, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken. Viele Betroffene werden mit Bürgergeld aufstocken müssen, sich vielleicht verschulden und so noch mehr verarmen – trotz Schufterei.

Dies und die von Politikern entfachte Debatte um den ökonomischen Nutzen von Menschen ist der eigentliche Skandal – und die geplanten 52 Euro mehr (für Alleinstehende) beim neuen "Bürgergeld", die nicht einmal die Inflation abfedern, sind es ebenso.

"Erhöhung" ist in Wahrheit eine Kürzung

Konkret: Es geht um ein Hartz-IV-Plus von weniger als zwölf Prozent – sowohl gegenüber den aktuellen Sätzen als auch gegenüber denen des vergangenen Jahres. Zum letzten Jahreswechsel stiegen die Bezüge nämlich nur um knapp 0,7 Prozent. Dabei sind schon seit geraumer Zeit die Preise für Lebensmittel und Energie durch die Decke gegangen. Laut Statistischem Bundesamt sind erstere 21 Prozent teurer als vor einem Jahr, letztere rund 40 Prozent. Fast die Hälfte des Hartz-Budgets ist dafür ausgelegt.

Doch auch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die Stadtwerke, von denen sich viele verschuldete Arme versorgen lassen müssen, haben eine Verdoppelung der Strompreise – teils sogar noch mehr – ab Januar verkündet. Und in die Lebensmittelpreis-Berechnung der Statistiker sind ganz bestimmt eine Menge Güter eingeflossen, die sich Arme sowieso nicht leisten können. Insbesondere Grundnahrungsmittel in Billigdiscountern haben deutlich stärker zugelegt. Und ein Ende dieser Inflation ist weiterhin gar nicht in Sicht.

Real betrachtet, handelt es sich also nicht einmal um eine Erhöhung, sondern vielmehr um eine Kürzung, genauso wie beim Mindestlohn. Dieser lag von Juli bis Dezember 2021 bei 9,60 Euro pro Stunde, stieg Anfang dieses Jahres auf 9,85, wurde im Juli auf 10,45 Euro angehoben. Seit Oktober gibt es zwölf Euro pro Stunde – das ergibt ein Monats-Netto von weniger als 1.500 Euro bei Steuerklasse 1 – und einen Anstieg binnen Jahresfrist um 25 Prozent. Davon müssen Betroffene allerdings nicht nur nahezu doppelt so viel für Strom und Essen, sondern auch großteils verdreifachte Heizkosten berappen.

Niedrige Grundsicherung – niedrige Löhne

Zur Wahrheit gehört auch, dass Beschäftigte immer mehr haben, als Bezieher von Hartz IV alias Bürgergeld bekommen. Denn sie können aufstocken, und dann gibt es Freibeträge auf das Einkommen von – je nach Höhe – bis zu mehreren Hundert Euro. Exorbitant besser gestellt sind Niedriglöhner jedoch auch damit nicht. Man kann sich nun darüber aufregen, dass die Grundsicherung "zu hoch" sei und über "Faulenzer" in einer "sozialen Hängematte" fluchen, wie Schwarz-Blau es tut und es auch FDP, SPD und Grüne schon zur Genüge taten.

Doch dies würde verdrängen, was wirklich passiert: Die herrschenden deutschen Politiker verschärfen die Ausbeutung der Lohnabhängigen, also jener, auf deren Kosten sie und ein paar Tausend Superreiche leben, und zwar indem sie Mindestlöhne und Sozialleistungen nicht an die realen Lebenshaltungskosten anpassen. An deren Explosion sind sie zugleich beileibe nicht unschuldig. Genannt seien nur zwei Gründe: der hemmungslose Wirtschaftskrieg gegen Russland im Interesse der USA und die desaströse Corona-Lockdown-Politik ab 2020.

Den Zorn auf Bürgergeld-Bezieher zu fokussieren, hilft auch zu vermeiden, dass eine höhere Grundsicherung Druck auf die Festsetzung der untersten Löhne ausüben könnte. Denn um kein Heer aus vielen Millionen verarmten "Aufstockern" zu genieren oder gar massenhafte Kündigungen zu provozieren, müssten Unternehmen wie Politiker den Mindestlohn ebenso anheben. Billiglöhne sind auch ein Produkt zu niedriger Grundsicherung – das eine bedingt das andere.

Eine repressive, weiterhin sanktionsbewehrte, viel zu niedrige Grundsicherung zwingt Betroffene in den Niedriglohnsektor. Hartz IV war ein gewichtiger Motor für dessen Erblühen ab 2005. Und das Instrument macht nicht nur den derzeitigen Beziehern Angst. Wer traut sich, gegen miserable Arbeitsbedingungen aufzubegehren, wenn ihm bei Entlassung der Gang zum Jobcenter droht? Es geht nicht zuletzt um Angst und Entrechtung.

Verelendung fördert Kriminalität

Laut Grundgesetz steht jedem Bewohner Deutschlands eine menschenwürdige Existenz zu. Mit anderen Worten: Theoretisch darf die Regierung keinen Menschen, egal ob mit oder ohne Job, ohne Geld für Essen, Krankenversicherung und sonstige Grundbedürfnisse unter der Brücke verrotten lassen. Dass es praktisch anders aussieht, kann jeder in den Bahnhöfen und Parks beliebiger deutscher Großstädte mit eigenen Augen zunehmend selbst beobachten.

Das Gebot der Menschenwürde steht im Grundgesetz keineswegs aus purer Menschlichkeit an erster Stelle. Es betrifft letztlich alle: Wo die Verelendung wächst, steigt die Kriminalität. Dort blühen Drogenkonsum und -handel, Prostitution und Raubüberfälle, Diebstahl und Bettelei, Krankheit, Depression und früher Tod – all das, was die Hardliner für solche wachsende Verarmung andererseits beklagen.

Nun mag man einwerfen, dass diese Leute doch schließlich einfach arbeiten gehen könnten. So einfach ist das aber nicht. Zig Studien belegen, dass viele Menschen ohne Arbeit, manchmal ohne Obdach, so viele Probleme haben, dass sie schlicht keiner regulären Arbeit nachgehen können. Es gibt Gründe, weshalb sie dort reingerutscht sind und aus dem Teufelskreis nicht wieder hinausfinden. Die sind immer auch zum Teil gesamtgesellschaftlicher Natur. Viele haben schwere Schicksalsschläge hinter sich, leiden unter physischen und psychischen Problemen, unter Sprachbarrieren, fehlender Ausbildung, Drogen- und Alkoholsucht und so weiter. Armut macht auch krank. Und nicht jeder ist den deutschen Bürokratiemonstern gegenüber gewachsen.

Die Vorstellung, Betroffene mit Sanktionspeitsche und Hungerdrohung erfolgreich in den Arbeitsmarkt prügeln zu können, ist so realitätsfern wie die Vorstellung der Regierung, Russland durch einen totalen Wirtschaftskrieg und das Aufrüsten ukrainischer Neonazi-Bataillone "besiegen" zu können.

Somit stellt sich eine Frage: Was soll mit Menschen, die dem Arbeitsmarkt nicht dienen können, denn passieren? Ihre Verelendung mit all den Folgen in Kauf zu nehmen, kann keine Lösung für eine friedliche Gesellschaft sein. So gesehen, verstößt bereits das reale Elendsgeschehen, verkleidet in den Mythos "die wollen es doch so", gegen das deutsche Grundgesetz.

Verstoß gegen das Grundgesetz

Apropos Grundgesetz: Auch die derzeitigen sowie die geplanten Grundsicherungssätze verstoßen ziemlich sicher dagegen. In einem Urteil von 2014 erklärte bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Regelsätze zwar für "gerade noch verfassungsgemäß". Allerdings führte es bezüglich schon damals steigender Stromkosten näher aus:

"Angesichts außergewöhnlicher Preissteigerungen bei einer derart gewichtigen Ausgabeposition ist der Gesetzgeber allerdings verpflichtet, nicht nur den Index für die Fortschreibung der Regelbedarfe, sondern auch die grundlegenden Vorgaben für die Ermittlung des Bedarfs (...) zu überprüfen und, falls erforderlich, anzupassen."

Der Gesetzgeber müsse, so heißt es dort anderer Stelle, dafür sorgen, dass Grundbedarfe stets und sofort gedeckt werden könnten. Enorme Preisanstiege seien umgehend zu berücksichtigen, um eine Unterdeckung zu vermeiden. Dies gebiete die im Artikel 1 des Grundgesetzes geforderte Menschenwürde, so das Gericht.

Die Regierung hält sich nicht daran. Gezielte Nachfragen der Autorin beantwortete das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) mit Allgemeinplätzen. Es machte keinerlei Angaben dazu, wie die realen Preisanstiege in die geplanten neuen Regelsätze einfließen – offensichtlich wurde nichts berechnet.

Unwürdige Nützlichkeitsdebatte

Auch die Frage, wer eine bedarfsdeckende Grundsicherung denn bezahlen solle, fokussiert eine Schimäre. Natürlich stammt jeder Realprofit, der den Unternehmen und dem Staat (in Form von Steuern) zufließt, aus produktiver Arbeit. Wobei auch anzumerken ist, dass das kapitalistische System für seinen Hauptzweck, Profit zu generieren, einen Haufen Bullshit-Jobs hervorbringt, die keinem Normalbürger dienen. Man blicke nur einmal in Richtung Rüstungsindustrie, Finanzdienstleister und Behörden.

Die technologische Entwicklung sorgt dafür, dass immer mehr mit immer weniger Arbeitskräften produziert werden kann – mehr als genug für alle. Theoretisch könnte man die Produktion auf die Bedürfnisse der Menschen ausrichten und zugleich die (weniger werdende) Arbeit auf viel mehr Schultern verlagern, damit die Arbeitszeiten radikal verkürzen, was aber eine entsprechende Bildungs- und Sozialpolitik voraussetzt. Man tut es nicht. Stattdessen wächst die Zahl der Arbeitslosen, die man verarmen lässt und notdürftig mit Steuern alimentiert, was wiederum die Kaufkraft senkt, Überproduktion und Wirtschaftskrisen befeuert. Derweil sammelt sich der Reichtum immer weiter oben an.

Mit anderen Worten: Es ist genug da, aber enorm ungleich verteilt – im Sinne derer, die genug besitzen, um andere für sich arbeiten zu lassen. Das Problem ist hausgemacht, vom System selbst produziert.

Somit geht es bei der ganzen Diskussion um die Mogelpackung "Bürgergeld" kein bisschen um Moral oder Gerechtigkeit, wie gerne vorgegaukelt wird. Es handelt sich vielmehr um ein altbekanntes Herrschaftsinstrument: Die Bewertung und Sortierung von lohnabhängigen Menschen nach ihrem ökonomischen Nutzen für Kapital und Staat. Auf solchen "Werten" kann keine Gesellschaft basieren und funktionieren. Solch eine Debatte ist den Interessen aller Lohnabhängigen weder dienlich noch würdig.

Mehr zum Thema Bürgergeld: Wie die Union mit Fake News Sozialneid schürt

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.