Führte Pippi Langstrumpf die NATO-Verhandlungen mit den Russen?

Ist es Überheblichkeit oder Dummheit – oder beides? Sich die Welt so zu machen, wie sie einem gefällt, hat in der internationalen Militärpolitik gefährliche Folgen. Sowohl die USA als auch die NATO-Europäer verkennen bei Verhandlungen in Genf und Brüssel komplett den Ernst der Lage und die Gefährlichkeit für die europäische Sicherheit.
Führte Pippi Langstrumpf die NATO-Verhandlungen mit den Russen?Quelle: Gettyimages.ru

von Rainer Rupp

Wenn man die deutschen oder internationalen Medienberichte über das Russland-NATO-Treffen in Brüssel vom Mittwoch dieser Woche liest, kommt der begründete Verdacht auf, dass bei so viel Übereinstimmung der Inhalte die selbsternannten Qualitätsmedien es sich mal wieder nach altbewährter Methode leicht gemacht haben. Um keinem Politiker zu Hause mit einer eigenen Einschätzung der Dinge auf die Füße zu treten, nimmt man dazu die offizielle Presseerklärung des NATO-Generalsekretärs als Schreibvorlage und präsentiert diese mit kleinen Änderungen unter Berücksichtigung jeweils nationaler Aspekte als "exklusiven Bericht" des eigenen Korrespondenten vor Ort. Und wenn man sich die Presseerklärung der NATO selbst anschaut, dann erkennt man schnell, dass Washington hierbei die Feder geführt hat.

Angesichts der Sorgen vor einem neuen Krieg in Osteuropa habe die NATO einen vorsichtigen Versuch der Wiederannäherung an Russland unternommen, heißt es landauf, landab, und das allein sei schon positiv, egal was dabei rauskommt. Aber von Quasseln und noch mehr Quasseln, ohne dass die NATO auf die berechtigten Sorgen Russlands auch nur um ein Jota eingeht, davon hat Russland genug. Die Russen sind nach Genf und Brüssel gekommen, um die bedrohliche Kette zu sprengen, die US/NATO mit ihrer militärischen Expansion an die russischen Grenzen mit sturer und uneinsichtiger Entschlossenheit unaufhaltsam immer enger ziehen. Damit wird ein für alle Mal Schluss sein, entweder durch Verhandlungen oder mit anderen Mitteln. Das ist die erklärte Position Moskaus.

Das hatte am 6. Januar 2022 der stellvertretende Außenminister Russlands Sergei Rjabkow im Vorfeld der Gespräche in Genf und Brüssel in einem Interview mit der russischen Zeitung Iswestija  in aller Deutlichkeit angesprochen und erklärt, dass Russland die perfide Hinhaltetaktik von US/NATO nicht länger hinnehmen wird. Rjabkow, der wenige Tage später die russische Delegation bei den Gesprächen mit den USA anführte, sagte in dem Interview:

"In dieser Phase ist es für uns am wichtigsten, die Denkweiser unserer Gegner zu verstehen. Bisher haben wir nur eher allgemeine und abstrakte Kommentare von den Vereinigten Staaten, der NATO und anderen Ländern gehört, nach dem Motto, dass einige Dinge nicht akzeptabel sind, aber Gespräche am wichtigsten, und dass es auch wichtig sei, dass Russland deeskaliert. Es gibt nur sehr wenige rationale Kerne in diesem Verhandlungsansatz, vor allem wenn man sie vor dem Hintergrund der kontinuierlichen und extrem intensiven militärischen und geopolitischen Entwicklungen in den Gebieten in der Nähe der russischen Grenzen durch die NATO sieht, z. B. die Stationierung von Waffen dort, die Intensivierung von Militärmanövern, was wir mehrfach erwähnt haben, und so weiter.

Aufgrund drastischer Veränderungen in der Sicherheitslage Russlands mussten wir diesen Verhandlungsprozess dringend einleiten, wie vom Präsidenten (Putin) angewiesen. Wie der Präsident selbst wiederholt gesagt hat, erwarten wir ein recht schnelles Ergebnis. Nach den Ereignissen der nächsten Woche wird sich zeigen, ob rasche Fortschritte möglich sind und ob es eine Chance gibt, den Kurs fortzusetzen, der uns in erster Linie am Herzen liegt."

Rjabkow gibt in dem Interview zu, dass der russische Verhandlungsansatz "ziemlich starr" ist und dass er es vorziehen würde, wenn er sagen könnte, dass Flexibilität und Verhandlungsspielraum der Schlüssel zum Erfolg darstellen. Warum das diesmal nicht so ist, erklärte er mit den folgenden Worten:

"Unsere Taktik ist völlig anders und unser Ansatz ist ziemlich rigide, gerade weil wir uns zu viel Zeit genommen haben, um unsere Kollegen zu überzeugen, und diese Bemühungen auf unserer Seite haben bisher nur dazu geführt, dass unsere Kollegen zuhören, aber weiterhin tun, was sie wollen, egal wie sehr wir versucht haben, den negativen Trend in der euro-atlantischen Sicherheit in den vorangegangenen Phasen der jeweiligen diplomatischen und politischen Bemühungen zu stoppen. Überall sind wird immer über Aktionen gestolpert, die den uns gegebenen Versprechen und sogar Dokumenten zuwiderliefen, die politisch immer noch bindend sind."

"Deshalb unternehmen wir jetzt einen weiteren sehr ernsthaften Versuch, doch noch eine Einigung darüber zu erzielen, welche Linien nicht überschritten werden können und welche Ansätze, die wir festgelegt haben, nicht ignoriert werden dürfen. Wir sind hier besonders hart. Ich möchte betonen, dass das Ende der NATO-Expansion in Richtung unserer Grenze, die Nichtaufnahme neuer Mitglieder, die Nichtstationierung von Waffen auf den jeweiligen Gebieten, einschließlich natürlich der Ukraine, keine Durchführung provokativer Manöver usw. – all diese Bedingungen sind absolut notwendig und ohne sie müssen wir erklären, dass die andere Partei nicht kooperiert."

"Ohne das werden wir nicht in der Lage sein, eine Einigung zu erzielen, weil es sonst nur eine Wiederholung dessen sein wird, was mit unseren vergangenen Versuchen passiert ist, aber unter Umständen, die für uns angespannter und zu einem gewissen Grad bedrohlicher sein werden."

Aber in ihrer Überheblichkeit oder Dummheit erkennen weder die USA noch die NATO den Ernst der Lage und die Gefährlichkeit für die Sicherheit in Europa, auch in Deutschland. Die Antwort von NATO-Generalsekretär Stoltenberg zu diesem Komplex in seiner Pressekonferenz nach dem Treffen am Mittwoch spricht für sich:

"Zu den russischen Forderungen gehören, keine neuen Mitglieder mehr in die NATO aufzunehmen und Militärkräfte von den östlichen Verbündeten abzuziehen. Die Alliierten auf ihrer Seite bekräftigten die Politik der offenen Tür der NATO und das Recht für jede Nation, ihre eigenen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Die Verbündeten machten deutlich, dass sie nicht auf ihre Fähigkeit verzichten werden, sich gegenseitig zu schützen und zu verteidigen, auch mit Truppenpräsenz im östlichen Teil des Bündnisses."

Im Klartext hat Stoltenberg gesagt: Wir scheren uns einen Dreck um Eure russischen Sicherheitsbedürfnisse und wir werden auch weiterhin Eure Nachbarn in die NATO aufnehmen und dann auch in diesen Ländern unsere Truppen an Eure Grenzen vorschieben.

Schon im Vorfeld der Treffen in Genf und Brüssel haben US/NATO ihr Verhalten gegenüber Russland damit gerechtfertigt, dass Moskau aufgrund seines "bösartigen Verhaltens" gegenüber dem US/NATO-Westen und gegenüber seinen Nachbarn ganz allein an dieser Eskalation der Spannungen schuld sei. Dies begründete US-Außenminister Blinken vor wenigen Tagen in einer Pressekonferenz sogar damit, dass Russland eine Reihe seiner Nachbarn angegriffen und besetzt habe, zum Beispiel 2008 Georgien und 2014 die Ukraine. Blinken blieb unwidersprochen. Selbst angebliche europäische Qualitätsmedien korrigierten den US-Außenminister bei dieser plumpen Lüge nicht, obwohl eine im Jahr 2009 von der Europäischen Union in Auftrag gegebene unabhängige Untersuchung des Georgienkrieges zu dem Schluss gekommen war, dass nicht Russland, sondern die georgische Regierung unter Führung des US/NATO-Ziehkindes Präsident Saakaschwili für das Verbrechen des Angriffskrieges schuldig war.

Russlands angebliche Schuld am Georgienkrieg ist eine genauso faustdicke Lüge wie die angebliche Aggression und Besetzung von Teilen der Ukraine. Was tatsächlich alles mit aktiver Planung und Hilfe des Westens 2014 in der Ukraine geschah, wird von US/NATO komplett ausgeblendet. Aber Russlands angemessene Reaktion auf den von den USA und einigen EU-Ländern politisch koordinierten, aber vor allem auch finanziell mit fünf Milliarden Dollar unterstützten, blutigen Umsturz in der Ukraine wird als äußerst gefährliche Aggression gebrandmarkt, als Aggression gegen den angeblich "demokratischen und souveränen" Staat Ukraine, der von einem von Washington eingesetzten Gewaltregime gelenkt wurde.

Die Tatsache, dass damals schwer bewaffnete, nationalistische Gewaltextremisten und bekennende Faschisten die Deckung friedlicher Demonstranten nutzten, um die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen, wird einfach ausgeblendet, im Gedächtnisloch entsorgt. Gleiches gilt für die Tatsache, dass das Führungspersonal des neuen Putschregimes in Kiew sogar namentlich von Washington, genauer gesagt von Frau Victoria Nuland eingesetzt wurde. Die neuen Machthaber zeichneten sich vor allem durch extremen Russenhass aus, der mit willkürlichen und zahllosen tödlichen Gewaltakten gegen russischsprachige Bürger der Ukraine und gegen sogenannte "Russen-Sympathisanten" in der Zivilgesellschaft, in Medien, Kultur und Bildung seinen terroristischen Ausdruck fand. Die von US/NATO gehätschelten Machthaber in Kiew haben den vielen Millionen Menschen russischer Abstammung, die hauptsächlich im ostukrainischen Donbass und auf der Krim wohnen, sogar die Benutzung ihrer eigenen russischen Sprache verboten.

Aber Druck erzeugt Gegendruck. Die Menschen im Donbass haben sich gewehrt. Daraus hat sich ein blutiger Krieg entwickelt, in dem sich die Verteidiger ihrer Donbass-Heimat hervorragend gegen die zahlenmäßig und waffentechnisch weit überlegenen Möchtegern-Eroberer aus Kiew geschlagen haben. Als der Feldzug gegen den Donbass zu kippen und in einem Desaster für die Machthaber in Kiew zu enden drohte, sprangen US/NATO schnell auf Seiten ihrer ukrainischen Schützlinge ein und verlangten einen Waffenstillstand. So kam es zu dem Minsk-II-Abkommen für eine diplomatische Lösung des Konfliktes, das eine Verfassungsreform mit einem semi-autonomen Status für die Donbass-Republiken innerhalb einer Art Bundesrepublik Ukraine vorsieht. Aber die Machthaber in Kiew haben seither keinen Schritt in diese Richtung getan und werden trotzdem weiter von US/NATO gehätschelt.

Währenddessen schwelt der Kleinkrieg entlang der Frontline im Donbass bis heute weiter. Im US/NATO-Westen scheint es niemanden zu stören, dass gewisse Freiwilligen-Bataillone wie das faschistische ASOW immer wieder mal Dörfer im Donbass unter Beschuss nehmen, sogar mit schwerer Artillerie, nur um dort die russischsprachigen Bürger des eigenen Landes zu bestrafen und zu töten. Die sogenannten Freiwilligen-Bataillone sind mittlerweile auch als intakte Einheiten in die reguläre Armee der Ukraine integriert worden. All dies wäre nicht möglich ohne den US/NATO-Westen, der diese Verbrecher weiterhin großzügig mit Geld, Ausbildern und neuen Waffen unterstützt und sie weiterhin mit einer Mitgliedschaft in der NATO lockt.

Von all dem fand man in den Medienberichten im Vorfeld der jüngsten Verhandlungen in Genf und Brüssel kein Wort, aber dafür umso mehr über russische Aggression, Besatzung, Annexion und bösartiges Verhalten. Welcher Russe bei klarem Verstand könnte vor dem Hintergrund dieser mit den US/NATO-Imperialisten gemachten Erfahrungen, ganz zu schweigen von deren Verbrechen in den völkerrechtswidrigen Kriegen gegen Jugoslawien, Irak, Libyen etc., den hochheiligen Versicherungen von US/NATO-Vertretern noch Glauben schenken, dass die Ostexpansion nicht gegen Russland gerichtet ist?

Dennoch versuchten die US-NATO-Vertreter, das Treffen mit der russischen Seite der Öffentlichkeit als Erfolg zu verkaufen, denn man rede ja wieder miteinander. Zu gern würden US/NATO auch erkannte russische Stärken des russischen Militärs wegverhandeln, wie zum Beispiel die geografisch bedingte Überlegenheit. Vor allem aber wollen sie die Früchte der erfolgreichen, militär-technischen Revolution in Russland mit Verhandlungen an die Kette legen, denn diese Revolution sichert Russland in einer ganzen Reihe von taktischen und strategischen Bereichen auf viele Jahre hin die Dominanz. Gegenüber Verhandlungen zu diesen Themen ist Moskau im Prinzip nicht abgeneigt, aber nicht, solange US/NATO ihre Expansionspläne in Richtung Osten nicht aufgeben und ihre Militärpräsenz im Osten abbauen. Das aber lehnt der Westen nach dem Stand der Dinge am Abend nach den Verhandlungen in Brüssel weiterhin kategorisch ab.

Vize-Außenminister Alexander Gruschko, der als Leiter der Delegation aus Moskau in Brüssel die Verhandlungen führte, erklärte nach dem Treffen, dass die westliche Militärallianz weiterhin "keine Bereitschaft zeigt, die Sicherheitsinteressen Russlands zu berücksichtigen". Die NATO stelle sein Land als "Hauptgegner und Hauptgefahr" hin und betreibe eine Politik wie im Kalten Krieg, als es dem Westen darum gegangen sei, die Sowjetunion kleinzuhalten. Russland werde sich gegen die NATO-Erweiterung nach Osten wehren – notfalls auch militärisch, so Gruschko.

Jetzt müssen wir sehen, wie nächste Woche die endgültige Entscheidung von USA und NATO auf die russischen Vorschläge für eine Sicherheitsgarantie aussieht. Laut dem russischen Außenminister Sergei Lawrow stellen die Verhandlungen über Sicherheitsgarantien mit Washington auf seiner Prioritätenliste das "Hauptformat" dar. Er warte nun auf die versprochenen schriftlichen Antworten auf Moskaus Vorschläge. Wörtlich sagte Lawrow:

"Die Amerikaner haben uns versprochen, sich zu bemühen, aber wir haben ihnen gesagt, dass sie sich sehr bemühen und nächste Woche ihre Gegenvorschläge machen müssen. Stoltenberg, der Generalsekretär der NATO, hat sich im Namen der Nordatlantischen Allianz ebenfalls bereit erklärt, seine Reaktion schriftlich zu geben."

Die Aussichten für weitere Gespräche seien davon abhängig, auf welchen Widerhall Russlands Vorschläge in Washington und Brüssel in den USA und der NATO treffen. Mit einer Ablehnung der Kernpunkte in Russlands Vorschlägen, nämlich des Stopps der Ostexpansion, würde sich die NATO "völlig verhandlungsunfähig" zeigen, präzisierte Außenminister Lawrow.

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