Ungebremster Preisanstieg: Geringverdiener und Bedürftige können sich immer weniger leisten

Essen, Strom, Heizung und Sprit werden immer teurer. Das zeigen auch neue Daten des Statistischen Bundesamtes. Die Mindestlöhne und Grundsicherungsleistungen halten dabei nicht mit. Doch die Warnungen mehrerer Sozialverbände prallten ungehört an den politischen Entscheidern ab.
Ungebremster Preisanstieg: Geringverdiener und Bedürftige können sich immer weniger leistenQuelle: www.globallookpress.com © imago stock&people / www.imago-images.de

von Susan Bonath

Nach mehr als eineinhalb Jahren global praktizierter Corona-Politik gewinnt die Wirtschaftskrise an Fahrt. Auch in Deutschland leiden besonders Geringverdiener und Bezieher von Grundsicherungsleistungen unter weiter steigenden Preisen für Güter des täglichen Grundbedarfs wie Strom, Heizung, Nahrungsmittel und Kraftstoffe. Und neue Zahlen des Statistischen Bundesamtes deuten darauf hin: Ein Ende ist nicht Sicht.

Lebensmittel, Heizung, Strom und Sprit kosten immer mehr

Demnach legten die Verkaufspreise im Großhandel im September 2021 binnen Jahresfrist insgesamt um 13,2 Prozent zu. Gegenüber dem Vormonat August betrug die Teuerung 0,8 Prozent. Die Statistiker begründen die Entwicklung mit stark steigenden Preisen für viele Rohstoffe und Vorprodukte. Metalle seien fast um zwei Drittel teurer als noch vor einem Jahr, heißt es. Bei Altmaterial und Reststoffen betrage der Anstieg sogar rund 85 Prozent. Holz kostet demnach 54 Prozent und Mineralöl gut 42 Prozent mehr, was sich vor allem auf die Sprit-, Heiz- und Stromkosten auswirkt. Die Preise für Getreide und Saatgut seien um fast 24 Prozent in die Höhe geschnellt. Unter anderem deshalb sollen die Preise für Nudeln um 25 Prozent anziehen, wie der Fernsehsender Sat.1 jüngst berichtete.

Die Inflationsrate für Waren aller Art bezifferte das Statistische Bundesamt Ende September vorläufig mit gut 6 Prozent, wobei der größte Anteil (14,3 Prozent) auf Energie entfällt, gefolgt von Nahrungsmitteln mit 4,9 Prozent. Die Behörde nannte "eine Reihe von Gründen" dafür. Einerseits hätten viele Produkte vor einem Jahr weniger gekostet, unter anderem durch die temporäre Senkung der Mehrwertsteuer von Juli bis Dezember des vergangenen Jahres von 19 auf 16 und 7 auf 5 Prozent. Im Januar wurde sie wieder auf das Vorniveau angehoben, die Preise stiegen folglich.

Andererseits schlage sich auch die Bepreisung von Kohlendioxid (CO₂) seit Beginn dieses Jahres auf die Preise nieder. Wie zu erwarten, legten die Großkonzerne ihre Mehrausgaben auf die Verbraucher um. Ferner führten die Statistiker "krisenbedingte Effekte" an. Dazu gehörten "deutliche Preisanstiege auf den vorgelagerten Wirtschaftsstufen". Diese machten sich nun zunehmend im Verbraucherpreisindex und in der Inflationsrate bemerkbar.

Löhne und Sozialleistungen nicht an Teuerung angepasst

Mindestlohn und Grundsicherung wie Hartz IV, Sozialhilfe im Alter und bei Erwerbsminderung sowie Asylbewerberleistungen halten damit nicht Schritt. Seit ihrer Einführung im Jahr 2015 wuchs die Lohnuntergrenze von 8,50 auf aktuell 9,60 Euro pro Stunde und damit um knapp 13 Prozent. Im vorigen Jahr verdienten Mindestlöhner 9,35 Euro, von Januar bis Juni 2021 gab es 9,50 Euro und ab Juli noch einmal zehn Cent mehr. Das ist ein Plus von weniger als 2,7 Prozent. Im Januar ist eine weitere Erhöhung auf 9,82 und im Juli auf 10,45 Euro geplant.

Wer Hartz IV bekommt oder von Sozialhilfe leben muss, bekommt ab kommendem Jahr drei Euro mehr, sofern er alleinstehend ist. Der Satz steigt hier von 446 auf 449 Euro. Für Jugendliche von 14 bis 17 Jahren steigt der Satz von 373 auf 376 Euro, für volljährige Partner jeweils von 401 auf 404 Euro. Kindern gesteht die Bundesregierung lediglich zwei Euro mehr zu. Unter Sechsjährige erhalten dann 285 Euro, ältere Kinder 311 Euro. Lediglich für Behinderte in Wohnheimen und junge Erwachsene unter 25 Jahren steigt der Regelsatz etwas stärker von 351 auf 360 Euro.

Laut Bundesregierung soll sich diese Minierhöhung auch auf Asylbewerberleistungen auswirken. Die Regelsätze für Flüchtlinge liegen dabei schon in diesem Jahr weit unter den Leistungen für Bezieher von Hartz IV und Sozialhilfe. So bekommen Alleinstehende derzeit 364 Euro (minus 18,4 Prozent), Partner jeweils 328 Euro (minus 18,2 Prozent) und junge Erwachsene 292 Euro (minus 16,8 Prozent). Für jugendliche Asylsuchende von 14 bis 17 Jahren gibt es 323 Euro (minus 13,4 Prozent), für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren 282 Euro (minus 8,7 Prozent) und für Kleinkinder 247 Euro pro Monat (minus 12,7 Prozent). Die Bundesregierung begründet die Lücke damit, dass Betroffenen einfache Möbel und Strom gestellt werden.

Wachsende Kluft zwischen realen und erstatteten Kosten

Schon im Jahr 2005 hatte der Bundestag weit geringere Hartz-IV-Regelsätze eingeführt als eigentlich von der sogenannten Hartz-Kommission vorgeschlagen. Mehrfach änderten die jeweils Regierenden die Grundlagen zur Berechnung. So senkte man beispielsweise die Bezugsgruppe bei der alle vier Jahre erfolgenden Neuberechnung nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) von den ehemals ärmsten 20 auf die ärmsten 15 Prozent der Bevölkerung. Außerdem wurden immer mehr Ausgabe-Positionen herausgerechnet, unter anderem für auswärtige Verpflegung an Imbissständen, für Malstifte für Kinder und für alkoholische Getränke.

Hinzu kommt eine seit Jahren wachsende Lücke zwischen realen Wohnkosten und der von Kommunen festgesetzten Mietobergrenze für Bedürftige. Wie der Sozialwissenschaftler und Volkswirt Stefan Sell im August in seinem Blog darlegte, zahlten im ersten Corona-Jahr etwa 450.000 betroffene Haushalte, etwa jeder Sechste, im Schnitt 87 Euro pro Monat aus ihrem Hartz-IV-Regelsatz auf ihre Miete drauf. Im gesamten Jahr betrug die Differenz zwischen erstatteter und gezahlter Miete rund 474 Millionen Euro. Die Miete ist die einzige Ausgabe, die zusätzlich zum Regelsatz gezahlt wird.

Geringe Sozialleistungen führen zu niedrigen Löhnen

Die geplante Minierhöhung fällt nun weit geringer aus als der Anstieg der Preise für Grundbedarfe. Das Verbraucherportal Verivox kritisiert schon seit Jahren eine zunehmende Kluft zwischen realen und in den Regelsatz eingerechneten Strompreisen von rund 35 Euro pro Monat für Alleinstehende. In diesem Jahr liege die Differenz zwischen realen und erstatteten Kosten bereits bei 22 Prozent, teilte Verivox Ende September mit.

Die niedrigen Leistungen für Erwerbslose und Arbeitsunfähige wirken sich dabei negativ auf das Lohnniveau aus. Denn es gilt das Abstandsgebot, wonach Löhne für Vollzeitarbeit höher liegen müssen als die Grundsicherung. Ist letztere niedrig, besteht kein Anreiz für die Politik, den Mindestlohn zu erhöhen.

Mehr noch: Auch der Steuerfreibetrag geht mit der Grundsicherung Hand in Hand. In diesem Jahr liegt dieser bei 9.744 Euro, 2022 soll er um 240 Euro steigen. Teilt man diesen durch zwölf Monate, bekommt man in etwa den Mittelwert eines Hartz-IV-Regelsatzes plus Mietzuschuss für eine alleinstehende Person. Der Steuerfreibetrag beziffert die Einkommensgrenze, oberhalb derer Lohnabhängige und Selbständige Lohn- bzw. Einkommenssteuer zahlen müssen. Je niedriger der Freibetrag, desto höher ist die Steuerlast auch für Beschäftigte mit mittleren Einkommen.

Drohender Kaufkraftverlust: Appell von Sozialverbänden verpuffte

Vergangene Woche forderte deshalb auch ein Bündnis von 14 Sozialverbänden, darunter der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Diakonie, die Regelsätze für Hartz IV und Sozialhilfe stärker zu erhöhen. Es müsse mindestens der Preisanstieg ausgeglichen werden, mahnten sie. Kurz danach stimmte allerdings der Bundesrat ungeachtet dessen der geplanten Minierhöhung zu.

Auch ein Gutachten, das der Paritätische Wohlfahrtsverband bei der Juristin Anne Lenze aus Darmstadt in Auftrag gegeben hatte, prallte an den politischen Entscheidungsgremien ab. Lenze kommt darin zu dem Schluss, dass eine Erhöhung die Preisentwicklung der letzten Monate bei Weitem nicht ausgleiche. So sinke die Kaufkraft der Betroffenen weiter. Dies verstoße gegen das Grundgesetz, so Lenze.

Das Bündnis aus Sozialverbänden richtete seinen Appell an Noch-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Darin heißt es etwa: "Gemeinsam fordern wir Sie auf: Es braucht eine rote Linie bei existenzsichernden Leistungen wie Hartz IV." Laut Bundesverfassungsgericht müssten Preissteigerungen immer und zeitnah mindestens ausgeglichen werden. "Es gilt umgehend zu handeln, um die versteckten Kürzungen bei den Ärmsten unserer Gesellschaft zu stoppen", so die Verbände in ihrem Appell. Dass dieser erneut unerwidert an den politisch Verantwortlichen abprallte, deutet darauf hin, dass sie die sich seit Jahren zuspitzenden sozialen Verwerfungen weiterhin ungerührt in Kauf nehmen. Es betrifft ja "nur" ein paar Millionen Menschen.

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