Deutschland

Interview mit Alexander Rahr zur Bundestagswahl: "Die Parteien stehen für nichts"

Der Politikwissenschaftler Alexander Rahr stellt im Interview die Lage nach der Wahl zum Bundestag dar. Die Kandidaten von SPD und Union können beide Kanzler werden. Doch habe Olaf Scholz zwei Optionen, während Armin Laschet nur über eine verfüge.

Am Tag nach der Bundestagswahl sprach RT DE mit dem Politikwissenschaftler Alexander Rahr über die Ergebnisse. Er sieht Olaf Scholz und die SPD als die Gewinner der Wahl. Dennoch seien auch die Unionsparteien nicht aus dem Rennen um die Kanzlerschaft. Grüne und FDP zeigen einen ausgeprägten Willen zur Macht. 

Alexander Rahr ist Politologe und Buchautor. Er ist Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums und wissenschaftlicher Mitarbeiter des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik in Potsdam. Darüber hinaus ist er Ehrenprofessor des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen und der Wirtschaftshochschule Moskau. 2003 wurde Rahr das Bundesverdienstkreuz verliehen. 2019 erhielt er den Orden der Freundschaft der Russischen Föderation für sein Engagement in den deutsch-russischen Beziehungen.

Alexander Rahr zeigt sich überrascht von den herben Verlusten der CDU. In der Partei werden Machtkämpfe ausbrechen, und es sei fraglich, ob sie ihren Status einer Volkspartei halten kann. Die SPD dagegen, die diesen Status einer Volkspartei bereits vor einigen Jahren verlor, hat aufgeholt. Rahr schätzt ein, dass die SPD die Wahl im Grunde gewonnen hat, wenn auch mit nur einem geringen Vorsprung.

Der Politikwissenschaftler schätzt die Chancen der Kandidaten von CDU/CSU und SPD für eine Kanzlerschaft unterschiedlich ein:

"Armin Laschet hat nur eine Option. Er ist auf FDP und Die Grünen angewiesen. Er kann nur in einer Jamaika-Koalition Kanzler werden. Olaf Scholz hat theoretisch eine zweite Option – die große Koalition. Er wird eine Ampelkoalition mit den Grünen und der FDP anstreben. Aber er kann auch der Union eine Koalition anbieten – unter seiner Kanzlerschaft."

Rahr bezeichnet die Aussicht auf eine große Koalition gegenwärtig als gering. Doch wenn Olaf Scholz möglichen Partnern in den Unionsparteien "lukrative Posten anbietet", so werden sie nicht "Nein" sagen. Als Partner nennt er dafür Friedrich Merz und Jens Spahn.

Die CDU und gerade auch Armin Laschet hätten die Probleme im Wahlkampf unterschätzt. Laschet sah sich fast automatisch als künftigen Wahlsieger und Kanzler. Sein "unglücklicher Lacher" im Hochwassergebiet hätte ihn ins Verderben gebracht. Rahr erinnert im Gegensatz dazu an den Kanzler Gerhard Schröder von der SPD, der bei dem Einsatz gegen das Hochwasser von 2002 in Gummistiefeln im Überflutungsgebiet stand und den Menschen gezeigt hatte, dass er bei ihnen ist.

Auf die Frage nach der möglichen Bildung einer Regierungskoalition einer der beiden Parteien SPD oder CDU/CSU mit der FDP und Bündnis 90/Die Grünen sagt Alexander Rahr:

"Sowohl eine Jamaika- als auch eine Ampelkoalition müssen erst ausprobiert werden. Es ist schwierig abzuschätzen, welche Koalition besser für das Land ist. Die Grünen und die FDP wollen an die Macht, anders als vor vier Jahren, als sie die Gespräche abgebrochen hatten. Beide haben auch die notwendige Bereitschaft zu Kompromissen."

Es sei aber nicht einfach, sich vorzustellen, wie sich diese beiden Parteien derzeit verständigen wollen. Sie haben sehr unterschiedliche Auffassungen von Politik und Wirtschaft.

Nach Einschätzung von Rahr nimmt der Protest in der deutschen Politik ab. Die Verluste von AfD und Linken würden zeigen, dass die Wähler nicht mehr so sehr Protest ausdrücken wollen wie noch vor vier und acht Jahren.

"Als Protestbewegung bleibt nur der Teil der Jugend, der grün wählte. Die Jugend, die sich entschieden für den Klimaschutz einsetzt. Klimapolitik wird Außenpolitik, Klimapolitik wird Wirtschaftspolitik, wird sogar Sozialpolitik."

Inwieweit Klimapolitik später in der Bevölkerung akzeptiert wird, wenn die Probleme mit der Finanzierung kommen, sei eine andere Frage. Nach seiner Auffassung sei "viel Utopie" in der Jugendbewegung zum Schutz des Klimas.

Rahr erkennt in der Klimapolitik ein großes Problem. Deutschland presche zu sehr voran und könne die anderen EU-Länder nicht mitnehmen. Das beträfe sowohl den Kohleausstieg als auch den Atomausstieg.

Auf die Frage nach den Entscheidungen der Wähler für eine Partei und nach Wählerwanderungen erklärt der Politologe:

"Es geht heute weniger um Inhalte. In den Wahlen zuvor ging es immer um Inhalte. Deutschland ist eine Parteiendemokratie, der Wähler hat sich immer an Parteien orientiert. (...) Doch heute stehen die Parteien weniger für Inhalte als vielmehr für Beliebigkeit."

Und zur Nachfolge nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel meint Rahr:

"Frau Merkel hat ihre Macht immer wieder sehr gut behaupten können, hat ihre Konkurrenten ausgeschaltet. Und sie hat es – in einer meisterlichen Art und Weise, muss man sagen – geschafft, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Sie war mal grün, mal rot, mal schwarz. Mal links, mal liberal. Und jeder hat sie dann für voll genommen. (...)

Aber nun ist sie weg. Und der neue Kanzler kann und wird nicht auf allen diesen Stühlen sitzen. Jetzt werden die Menschen fragen: Wofür steht die CDU? Wofür steht die SPD? Der Wahlkampf hat gezeigt, dass die Parteien für nichts stehen."

Die Kanzlerkandidaten Laschet und Scholz würden immerhin ein vernünftiges Verhältnis zu Russland wollen. Beide unterstützen Nord Stream 2, beide wollen, dass die deutsche Wirtschaft zurück auf den russischen Markt kann.

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