Meinung

Was passiert wirklich zwischen China und den USA im Südchinesischen Meer?

In der polarisierten Welt der Gegenwart wird die Lage in dieser äußerst bedeutsamen Region des Pazifischen Ozeans häufig entweder als Expansionismus Chinas oder als Imperialismus der Vereinigten Staaten dargestellt. Jedoch ist die Angelegenheit – wie in anderen Fällen auch – erheblich komplizierter.
Was passiert wirklich zwischen China und den USA im Südchinesischen Meer?Quelle: AP © Mass Communication Specialist 3rd Class Jason Tarleton/U.S. Navy

von Tom Fowdy  

Während die US-Vizepräsidentin Kamala Harris versucht, die Verantwortung der Vereinigten Staaten für die anhaltende Katastrophe in Afghanistan auszublenden, hat sie sich auf ihre langerwartete Südostasientour begeben, die sie nach Singapur und Vietnam führt. Dort bezichtigte sie die Regierung in Peking der "Einschüchterung" und "Nötigung" im Südchinesischen Meer. Seit langem reklamiert China diese Wasserstraße mit enormer strategischer Bedeutung für sich – und zwar im Zusammenhang der sogenannten "Nine-dash line", einer seit Jahrzehnten von China beanspruchten Territorialgrenze. Seit geraumer Zeit ist der Widerstand gegen chinesische Ansprüche in dieser Region zu einem Hauptanliegen US-amerikanischer Außenpolitik erklärt geworden. Dieser Widerstand findet seinen Niederschlag in der Indopazifik-Strategie, mit der die USA ihre maritime Präsenz in dem umstrittenen Seegebiet durch militärische Manöver zum Zweck der Demonstration einer "Freiheit der Schifffahrt" verstärken und verbündete Staaten dazu ermutigen wollen, gleiches zu tun.

Etwa vor einem Jahr wurde die "Nine-dash line" von Mike Pompeo offiziell als unrechtmäßig verurteilt. Australien ist dem gefolgt. Mit dem Anti-Peking-Narrativ soll die Situation im Südchinesischen Meer vereinfachend als ein Beispiel des "Expansionismus" und der "Aggression" durch China dargestellt werden. Einigen mag dies nachvollziehbar erscheinen, denn sie bringt die Anrainerstaaten in eine missliche Lage. Trifft die Anschuldigung aber wirklich den Kern? Ist das schon die ganze Geschichte? Jede Medaille hat zwei Seiten. So ist das Fiasko im Südchinesischen Meer tatsächlich eine Reaktion auf Washingtons zunehmend antichinesische Politik mit wachsender Eskalation, die unter Obama begonnen wurde. Diese Einsicht steht im Widerspruch zu der allzu einfachen Darstellung eines "aggressiven" oder "ehrgeizigen" Verhaltens Chinas. Weniger geht es bei dieser Auseinandersetzung um Drittstaaten – so sehr diese auch darunter leiden –, als um die Reaktion auf Versuche der Vereinigten Staaten, China einzukreisen und die Peripherie  zu militarisieren. Damit entwickelt sich eine Spirale, die mit der US-amerikanischen Neuorientierung nach Asien ("Pivot to Asia") begann und die für alle Beteiligten zunehmend zum Teufelskreis wird.

Natürlich gibt es dafür Gründe in der Geschichte. Wenn man nur der Berichterstattung in den Mainstream-Medien folgt, neigt man wahrscheinlich zu der Annahme, China habe sich eines Tages "entschlossen", das Südchinesische Meer solle nun ihm gehören. Die Dinge so simpel zu sehen, ist durchaus nicht ungewöhnlich. Allerdings verbinden sich mit der "Nine-dash line" territoriale und maritime Ansprüche, die älter sind als die Volksrepublik China und bereits vom Vorgängerstaat, der Republik China (deren Regierung jetzt auf Taiwan residiert und ebenfalls an dieser Grenze offiziell festhält), im Jahre 1947 im Feilschen auf dem Podium der UNO erhoben wurden. Angesichts der damaligen Kapitulation Japans, das bekanntlich zuvor die Gebiete vieler asiatischer Staaten okkupiert und eine Reihe von Streitigkeiten hinterlassen hatte, vertrat China damals bereits den Standpunkt, dass die Dongsha- (Pratas-), Paracel- und Spratly-Inseln rechtlich gesehen chinesisch seien. Dies ist aber noch nicht alles. Das Beharren auf der "Nine-dash line" als der maritimen Grenze hat noch weiter in die Vergangenheit reichende Gründe und ist Ergebnis des Konflikts zwischen der Qing-Dynastie und dem französischen Kolonialreich, das über "Indochina" herrschte.

Es handelt sich hier um einen historischen Streitfall, der erst später noch bedeutsamer wurde, bis er in der heutigen Zeit eine grundsätzliche Bedeutung erlangt hat. Der Streit wird gegenwärtig verschärft durch das wachsende strategische Misstrauen gegenüber den Vereinigten Staaten sowie durch die Tatsache, dass China einfach über die Fähigkeiten verfügt, seine Ansprüche auch durchzusetzen und die Region zu "beherrschen" – und auch entschlossen ist, dies zu tun. In früheren Jahrzehnten war das einfach kein Thema: Mao Zedong verfügte zu keinem Zeitpunkt über eine Kriegsmarine und über solche Technologien, die nötig gewesen wären, um dem Land damals schon Respekt zu verschaffen. Auch waren die Vereinigten Staaten damals noch nicht bestrebt, China regionalpolitisch in Schach zu halten. Ausgehend von den eigenen strategischen Interessen wird in Peking –das US-amerikanische Verhalten seit Langem im Sinne einer "Einkreisung" interpretiert, das heißt als Bemühen, militärische Übermacht im gesamten Umfeld Chinas zu erlangen, und zwar in der Absicht, das Land politisch zu dominieren und zu nötigen.

Chinas vorrangiges strategisches Ziel besteht nicht darin – wie irrtümlich behauptet –, "Hegemonie" zu erlangen, sondern solche Hegemonie zu unterbinden. Natürlich wird dabei und dafür Chinas Militärmacht gestärkt, was zu Spannungen führt. Peking erkennt in diesem Spiel eine Reihe von Schachfiguren mit US-amerikanischer Ausrichtung. Dazu gehören Japan, in zunehmendem Maße Südkorea, die Insel Taiwan, die US-Territorien Guam und Nördliche Marianen, teilweise die Philippinen im Osten und Indien im Westen sowie natürlich das Vereinigte Königreich mit seinen Flugzeugträgern in dieser Region. Nimmt man dies alles zusammen, erhält man eine komplette Koalition von Partnern und Alliierten der Vereinigten Staaten, die China einkreisen, wobei Washington selbst seine Flotte wie seine sonstigen militärischen Aktivposten in der Region verstärkt. Was würden Sie also (an Chinas Stelle) tun, um dies zu verhindern?

Im Südchinesische Meer steht tatsächlich viel auf dem Spiel. Es ist eine Meerespassage, die Asien mit der übrigen östlichen wie westlichen Welt verbindet. Für China handelt es sich um den wichtigsten Seeweg innerhalb Asiens wie darüber hinaus. Über ihn werden 64 Prozent des Seehandels, ein Drittel des Welthandels auf dem Seeweg, mit einem jährlichen Gesamtumfang im Wert von 3,37 Billionen USD abgewickelt. Einem Konfliktszenario zufolge befürchtet China, dass die Vereinigten Staaten mit ihren Verbündete versuchen könnten, mittels dieser Einkreisungsstrategie eine Seeblockade über China zu verhängen – das Land also einfach von der Welt zu isolieren und dessen Wirtschaft in die Knie zu zwingen, ihm die Energieimporte zu verweigern sowie den Gegnern bessere Möglichkeiten zu verschaffen, chinesisches Territorium zu bombardieren. Für China ist dies einer der Gründe, das Projekt Neue Seidenstraße zu betreiben, das heißt weiträumig transkontinentale Landrouten zu bauen. Es ist aber auch der Grund dafür, den US-amerikanischen Aktivitäten auch im Südchinesischen Meer mit zunehmender chinesischer Militärpräsenz zu begegnen, indem das Land seine Kriegsflotte ausbaut, Militärbasen und Militärflugplätze auf umstrittenen Inseln errichtet, Radaranlagen und Luftabwehrwaffen disloziert und Startmöglichkeiten für ballistische Raketen ausbaut. All dies ist Teil einer auf dem "Area denial"-Konzept basierenden Konfliktstrategie, die dem US-Militär den Zugang verwehren und die China den Schutz des eigenen Territoriums ermöglichen soll und zugleich andere Akteure auch an der Unterstützung Taiwans hindert.

Die Vereinigten Staaten und deren Verbündete stellen ihre Reaktion auf China gern und immer wieder mittels des Slogans "Freiheit der Schifffahrt" dar, demzufolge "unsere Schiffe fahren, wohin sie wollen" und Washington "dem Schutz internationaler Normen verpflichtet" sei. Das kaschiert aber nur, was wirklich geschieht: Dass nämlich China militärisch in Schach gehalten werden soll, gibt man als Aufrechterhaltung des Völkerrechts aus. Natürlich wird China in normalen Zeiten die Durchfahrt niemandem wirklich verwehren. Der Slogan selbst ist ein Codewort für die Aufrechterhaltung maritimer Vorherrschaft seitens der Vereinigten Staaten, für eine globale Hegemoniallogik, die dem Mantra "Britannia Rules the Waves" längst vergangener Zeiten folgt. Wenn du über die mächtigste Kriegsflotte verfügst und deine Weltherrschaft erhalten möchtest, wirst du zweifellos auf einer Regelung bestehen, die auch die absolute Freizügigkeit für deine Schiffe weltweit verlangt. Denn diese Regelung favorisiert deine Präferenzen.

In Wirklichkeit sind die USA aber nicht einmal ein Vertragsstaat des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen geworden, was sie dennoch nicht davon abhält, China noch dessen Vertragsinhalt vorzuhalten. Was aber Peking angesichts dieser diplomatischen Offensiven Washingtons wirklich herausfordert und zugleich den Vereinigten Staaten diesen Anreiz für ihre Präsenz in der Region liefert, besteht darin, dass die Kontroverse um das Südchinesische Meer zwangsläufig die maritimen Ansprüche von Drittstaaten verletzt. Die Vereinigten Staaten sind daher nämlich bestrebt, die Interessen dieser Staaten zu benutzen, um ihre eigene gegen China gerichtete regionalpolitische Eindämmungspolitik zu rechtfertigen. Will China die USA schlagen, muss es folglich lernen, sich mit diesen Ländern in der Region zu einigen; China muss ihnen versichern, dass seine Absichten für diese nicht bedrohlich sind. Die Verdrängung der Vereinigten Staaten aus der Region würde allerdings auch bedeuten, dass diese Drittstaaten Chinas De-facto-Vorherrschaft akzeptieren.

Kann es unter diesen Umständen und trotz des von den Vereinigten Staaten ausgeübten Drucks verwundern, dass die Länder Südostasiens in dieser Auseinandersetzung nicht wirklich "wählen" wollen? Der "Konflikt" um das Südchinesische Meer ist im Grunde eine zwischen den USA und China mit militärischen Mitteln geführte Auseinandersetzung um regionale Vorherrschaft, wobei Peking seinen militärischen Ausbau vorantreibt, um der Einkreisung durch die Vereinigten Staaten zu entgehen, die ihrerseits die Spannungen in eine Eskalationsspirale treiben. Aber da es für die Volksrepublik China gewissermaßen ein Heimspiel ist, sie geopolitisch also immer im Vorteil ist, kann man sich fragen, wie lange die USA und deren Verbündete dieses Spiel noch fortsetzen können.

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Übersetzt aus dem Englischen. Tom Fowdy ist britischer Autor und Analyst für internationale Beziehungen, mit Schwerpunkt auf Ostasien. 

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