Meinung

So geht direkte Demokratie: Die 316. Volksabstimmung in der Schweiz steht kurz bevor

Als ein Modell von direkter Demokratie stehen die Volksabstimmungen in hohem Ansehen, sowohl in der Schweiz als auch im Ausland. Die Abstimmungen können Debatten um kontroverse Fragen aufnehmen, weiterführen oder zu einer Entscheidung bringen. Am 13. Juni stimmen die Schweizer über fünf Vorlagen ab.
So geht direkte Demokratie: Die 316. Volksabstimmung in der Schweiz steht kurz bevorQuelle: www.globallookpress.com © Udo Bernhart/picture alliance

von Jörn Jürschik

Das Modell von direkter Demokratie erfüllen die Schweizer am 13. Juni mit Leben. Sie stimmen über fünf Vorlagen ab. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GfS Bern sprechen sie sich in allen Fragen für ein Ja aus, während der Bundesrat – die Regierung der Schweiz – und das Parlament bei zwei Vorlagen ein Nein empfehlen. In der Vergangenheit haben Volksabstimmungen immer wieder Regierungsprojekte gestoppt oder neue Projekte initiiert.

Im Revolutionsjahr 1848 fand die erste Volksabstimmung in der Schweiz statt. Anfang Juni votierten die Bürger – das waren die stimmberechtigten Männer – für eine "Totalrevision" im Land. Diese wurde im September durchgeführt, indem Daten über Einwohner, Verwaltungseinheiten und wirtschaftliche Unternehmungen erhoben wurden. Die Revision diente der Einrichtung des Bundesstaates, die im selben Jahr erfolgte.

Diese Abstimmung konnte noch nicht einheitlich organisiert werden. Sie fand in 14 Kantonen und in zwei Halbkantonen statt. (Heute gibt es 26 Kantone.) In weiteren Regionen stimmten Räte und andere Gremien anstelle der Bevölkerung. Für die Totalrevision sprachen sich 145.000 Schweizer aus, 54.000 waren dagegen.

Bei der zweiten Volksabstimmung waren am 14. Januar 1866 neun Vorlagen zu entscheiden. Eine über Maß und Gewicht, die in der Wissenschaftsgeschichte Berühmtheit erlangte; doch sie wurde abgelehnt. Die zweite Vorlage fragte nach der Gleichstellung der Bürger in Bezug auf Niederlassung und Gesetzgebung. Sie wurde mit 170.000 zu 149.000 Stimmen angenommen – ein Nachhall der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848. Es folgten weitere Angelegenheiten der Einwohner und der Verwaltung. Die sechste Vorlage schlug die Glaubens- und Kultusfreiheit vor (abgelehnt), die achte den Schutz geistigen Eigentums (abgelehnt) und die neunte ein Verbot von Lotterie und Hasardspielen (ebenfalls abgelehnt).

In der dritten Volksabstimmung wurde den Schweizern wiederum eine "Totalrevision" nahegelegt. Doch diesmal lehnten sie ab. Am 12. Mai 1872 stimmten 255.000 Einwohner dafür und 261.000 dagegen. Damit setzten die Schweizer ein erstes Signal für den Datenschutz: Sie lehnten es ab, dass der Bundesstaat noch mehr Informationen über jeden Bürger erfassen darf.

Im Januar 1879 gab es die neunte Abstimmung. Wohlwollen bezeugten die Schweizer ihrer Regierung, indem sie die Gewährung von Subsidien für die Alpenbahnen unterstützten. Der Schweizer Bundesrat beschrieb diese Abstimmung wie folgt: "Wenn man die Härte des letzten Winters bedenkt und die Witterung am Abstimmungstage in Anschlag bringt, so wird man zugeben müssen, dass ein großes Interesse an der Sache sich kundgegeben habe, da gegen zwei Drittel der sämmtlichen Stimmberechtigten ihr Votum einlegten."

In den folgenden Jahrzehnten fanden Volksabstimmungen mit jeweils 12 bis 25 Vorlagen statt. Deutlich stieg die Anzahl ab 1971. In jenem Jahr erhielten die Frauen das allgemeine Wahlrecht. Nun konnten sie auch an den Abstimmungen teilnehmen. Das gleiche Recht erlangten Mittellose und Verurteilte. Die Steuern, die ein Bürger entrichtete, entschieden bis dahin über seine Mündigkeit. Erst jetzt kann man die bürgerlich-demokratische Revolution in der Schweiz als vollendet betrachten. Oder? An diesem Vorgang wird ein gewisser Zug von Konservatismus deutlich, der über der Schweiz liegt. Die direkte Demokratie hilft, ihn zu entkräften.

Die meisten Abstimmungsvorlagen gab es in den 1990er Jahren: 105. Die meisten hatten einen kontroversen Charakter. Beispiel 16. Februar 1992. Eine Initiative für eine "finanziell tragbare Krankenversicherung" wurde abgelehnt und eine "zur drastischen und schrittweisen Einschränkung der Tierversuche" ebenfalls. Gingen die Initiativen nicht weit genug? Waren ihre Vorschläge gut durchdacht? Jedenfalls beharrten die Schweizer auf ihren bisherigen Regelungen.

Eine besonders interessante Frage wurde ihnen am 25. September 1994 vorgelegt. Soll die Verbilligung von inländischem Getreide durch Geld aus Zolleinnahmen aufgehoben werden? Soll preiswertes Brot also nicht länger durch grenzüberschreitenden Handel subventioniert werden? Ja, die Schweizer stimmten ihrer Regierung zu. 1,3 Millionen gegen 706.000. Bei einer Beteiligung von 45 Prozent. Das Beispiel passt in die 90er Jahre. Es kann nur mit dem Begriff der Globalisierung charakterisiert werden.

Das Verhältnis zu Europa bestimmten die Schweizer in zwei Abstimmungen. 1992 sprachen sie sich gegen einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum aus. 1,762 Millionen waren für den Beitritt, 1,786 Millionen dagegen. Knapp zehn Jahre darauf, am 4. März 2001, legte die Regierung nur eine Frage zur Entscheidung vor: Der Bund nimmt ohne Verzug Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union auf. 77 Prozent stimmten mit Nein.

Bei der jüngsten Abstimmung am 7. März 2021, der insgesamt 315., sagten die Teilnehmer Ja zu einem Verhüllungsverbot sowie zu einem Freihandelsabkommen mit Indonesien. Und sie lehnten mit 64 Prozent ein Gesetz über die elektronische Identität ab. Die Regierung wollte jeden Bürger mit einer elektronischen Identität versehen, die als Dienstleistung von Unternehmen realisiert werden sollte. Der Politologe Lukas Golder vom Meinungsforschungsinstitut GfS Bern sagte dazu, die Gegner dieser Erfassung hätten es sehr gut verstanden, einen Schwachpunkt der Vorlage anzugreifen. "Man hatte schnell das Gefühl, die Vorlage funktioniert nicht gut." Anders als bei einem ähnlichen Thema im Jahr 2009 sei die Diskussion grundsätzlicher geführt worden. 2009 stimmten die Schweizer einem biometrischen Pass zu, jedoch nur mit einer Mehrheit von 50,1 Prozent.

Am 13. Juni 2021 nun sind es fünf Vorlagen. Die erste ist die Initiative für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung. Sie will die Direktzahlungen an Landwirte an folgende Bedingungen knüpfen: Die Betriebe müssen pestizidfrei produzieren, in der Tierhaltung dürfen sie "Antibiotika weder vorbeugend noch regelmäßig einsetzen". Und sie müssen in der Lage sein, ihre Tiere mit eigenem Futter zu versorgen. Landwirtschaftliche Forschung und Ausbildung sollen diesen Zielen verpflichtet werden. Die Initiative hat keine Auswirkung auf Betriebe, die ohne Direktzahlungen auskommen.

Regierung und Parlament empfehlen ein Nein. Denn die Initiative hätte zur Folge, dass weniger Lebensmittel produziert werden, der Import zunimmt. Damit würden die Umweltbelastungen ins Ausland verlagert. Das Trinkwasser in der Schweiz sei ausreichend geschützt, sagt die Politik.

Auch in der zweiten Vorlage geht es um die Landwirtschaft. Der Einsatz von synthetischen Pestiziden soll untersagt werden. Für die Initiative sind sie "sehr giftige chemische Substanzen, die Flüsse, Trinkwasser und Lebensmittel verunreinigen". Wiederum empfiehlt die Politik ein Nein. Das Verbot würde die Versorgung mit Schweizer Lebensmitteln und die Auswahl an importierten einschränken. Internationale Handelsabkommen würden verletzt. Pestizide kommen auch bei der Pflege von Parkanlagen und beispielsweise Bahngleisen zum Einsatz.

In einer Umfrage des Schweizer Fernsehens vom 7. Mai sprechen sich 55 Prozent für beide landwirtschaftlichen Initiativen aus. Auch die dritte Vorlage befürworten die Befragten, mit 67 zu 27 Prozent: die zum COVID-19-Gesetz. Dieses Mal befindet sich die Mehrheit in Einklang mit der Empfehlung der Regierung.

Dieses Gesetz ermöglicht die Verordnungen zur Bewältigung der Folgen von Corona. Erlassen wurde es im September 2020, im Nationalrat mit 153 zu 36 Stimmen, im Ständerat mit 44 zu 0 Stimmen. Es erlaubt, Hunderttausende Menschen und Unternehmen finanziell zu unterstützen. Das Referendum richtet sich dagegen. Nach Ansicht der Kritiker ist das Gesetz zu schnell und am Volk vorbei beschlossen worden. Es enthalte schädliche Maßnahmen wie die Subventionierung von Medien. Den Geschädigten der Pandemie könne anders geholfen werden.

In der vierten Vorlage geht es wiederum gegen ein Bundesgesetz – das über die Verminderung von Treibhausgasemissionen. Auch die Schweiz will das Klima per Gesetz schützen, auch die Schweiz legt zunächst eine Reduktion bis zum Jahr 2030 fest. Die Emissionen sollen auf die Hälfte im Vergleich zu 1990 sinken.

Die Gegner des Gesetzes haben sich zu der Abstimmungsinitiative zusammengeschlossen. Es gibt ein "Wirtschaftskomitee" und ein "Komitee für eine soziale und radikale Klimapolitik". Für das erste Komitee geht das Gesetz zu weit, für das zweite geht das Gesetz nicht weit genug. Das Wirtschaftskomitee macht Rechnungen zu der Kohlendioxidabgabe auf, die vor allem mittlere und geringe Einkommen belaste. Und die radikalen Klimaschützer machen mobil gegen "klimazerstörerische Strukturen", gegen einen "grünen Kapitalismus".

Regierung und Parlament verweisen in ihrer Empfehlung für das Gesetz darauf, dass die Abgabe für Kohlendioxid von bewährten Maßnahmen begleitet ist. Beispielsweise bezahlt sie jeder Flugreisende, und jeder Bürger, der nicht öfter als zwei Mal im Jahr ins Ausland fliegt, erhalte dabei Geld zurück.

Die letzte Vorlage betrifft das Gesetz über polizeiliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus. Die Abstimmungsfrage lautet: Wollen Sie das Gesetz annehmen? Die Politik empfiehlt ein Ja. Bei der Verabschiedung im September 2020 war es im Nationalrat mit 112 gegen 84 Stimmen angenommen worden, im Ständerat mit 33 gegen 11 Stimmen.

Wieder teilen sich die Kritiker in zwei Komitees auf. Das erste sagt "Nein zu Präventivstrafen". Es will eine effiziente Terrorismusbekämpfung, lehnt jedoch eine "schwammige Definition" von Terrorismus ab. Das Gesetz sei "der Schweiz unwürdig". Das Komitee für Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit dagegen schätzt ein, das Gesetz produziere Radikalisierung und Extremismus. "Der gute Ruf der humanitären Schweiz wäre dahin."

Die Abstimmung am 13. Juni fordert eines von allen Teilnehmern – dass sie sich informieren und eine Meinung bilden. Die setzen sie um. Anders als bei Wahlen nehmen sie keine Rücksicht auf Bindungen an Parteien oder Personen. Es wäre abwegig, die eigene Entscheidung nach dem traditionellen Wahlverhalten zu formen oder gar aus taktischen Gründen zu treffen. Wer das Anliegen einer Initiative teilt und die kritischen Argumente für richtig hält, stimmt für diese Initiative. So einfach ist direkte Demokratie.

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