Meinung

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise in Europa

Im Oktober veröffentlichte der IWF den "Regional Economic Outlook Europe". Darin prognostiziert er die Entwicklung der Volkswirtschaften in Europa unter dem Eindruck der COVID-19-Pandemie. Die Aussichten sind für die einzelnen Länder unterschiedlich, die Risiken groß.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise in EuropaQuelle: www.globallookpress.com © Jan Huebner/Voigt via www.imago-images.de

von Gert Ewen Ungar

Der Internationale Währungsfond (IWF) veröffentlichte im Oktober seinen Ausblick auf die weltweite wirtschaftliche Entwicklung. Wenige Tage später erschien der "Regional Economic Outlook" für Europa. 

Breiten Raum nehmen in beiden Prognosen die COVID-19-Pandemie und die mit ihr verbundenen wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Volkswirtschaften ein. Der IWF stellt fest, dass der weltweite Lockdown alle Volkswirtschaften in ihrer Entwicklung getroffen hat. Allerdings sind die Unterschiede erheblich. Alle Staaten und Währungsräume verzeichnen im laufenden Jahr einen Rückgang ihrer Wirtschaftsleistung. Es gab lediglich eine Ausnahme: China wächst auch in diesem Jahr. Zwar um absehbar lediglich 1,5 bis zwei Prozent. Aber im Gegensatz zu allen anderen Ökonomien hat der Lockdown nur zu einer Abschwächung des chinesischen Wachstums geführt, nicht aber zu einem kompletten Einbruch und zu Wohlstandsverlusten wie in allen anderen Ländern der Welt.

Zum Vergleich: Als in den letzten Jahren das Wachstum in Deutschland in den Jahren nach der Finanzkrise von 2009 um die zwei Prozent pendelte, sprachen deutsche Medien von einem lang anhaltenden "Boom". Zudem sind die Infektionszahlen in China inzwischen extrem niedrig. Die Pandemie kann dort als besiegt gelten, ein zweiter Lockdown wie in der EU steht aktuell nicht zur Debatte. 

Der IWF prognostiziert entsprechend für das kommende Jahr für China ein Wachstum von knapp acht Prozent. Damit hat China die Krise vollständig überwunden. 

Der "Regional Economic Outlook: Europe" ist mit "Whatever it Takes" überschrieben. Wer sich erinnert, mit diesem Satz beendete der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi die Spekulation auf den Staatsbankrott einzelner Staaten des Euroraums. Er signalisierte die Bereitschaft, alles zu tun, um den Euro zu retten. Die EZB startete ein riesiges Aufkaufprogramm für Staatsanleihen, das, was man "Geld drucken" nennt. Begleitet wurde das von weiteren unkonventionellen Maßnahmen wie Negativzinsen, aber auch von heftigen Protesten in den einzelnen Nationalstaaten.

Insbesondere in Deutschland war man nicht bereit, die Maßnahmen mitzutragen, und klagte. So wurde mit dem Halbsatz Draghis zwar die Eurozone vor dem Auseinanderbrechen gerettet, allerdings verharrt das Wachstum in der Eurozone und der EU seitdem auf niedrigem Niveau. Die Uneinigkeit der Länder im Hinblick auf die Ankaufprogramme ist groß und wirkt sich dämpfend aus. Im Euroraum wächst der Wohlstand auch in Krisen freien Zeiten nicht. Ein zentrales Problem: EZB und die Regierungen der einzelnen EU-Staaten können ihre Politik nicht in einem Maße koordinieren, dass daraus umfassendes Wachstum und Wohlstandsgewinne entstehen. 

Wenn der IWF von Europa spricht, meint er tatsächlich ganz Europa und nicht die EU. Er differenziert entsprechend auf mehreren Ebenen: Euroraum, EU und die Volkswirtschaften außerhalb der EU. Innerhalb der EU hat sich eine Begriffsverwendung eingeschlichen, die EU für ganz Europa auszugeben. Der IWF schließt sich dieser höchst problematischen Sicht und der Begrifflichkeit nicht an. Ein Grund dafür liegt sicher in den unterschiedlichen ökonomischen Dynamiken. Die Unterteilung, die der IWF vornimmt, ist die in "Advanced" und "Emerging Economies", also in entwickelte und sich entwickelnde Ökonomien, Schwellenländer. 

Für die entwickelten Ökonomien, die EU und insbesondere den Euroraum sieht der IWF weit größere Risiken als für die europäischen Schwellenländer. Schon jetzt deutet sich an, dass die wirtschaftliche Erholung in den Ländern des Euroraums ins Stocken gerät. Der kräftige Einbruch im Frühjahr war von einer nicht ganz so kräftigen Erholung gefolgt, die zunächst zu der Hoffnung Anlass gab, die Krise verliefe in der Form eines V, man würde also bald wieder auf den Wachstumspfad zurückkehren. 

Die wirtschaftspolitische Plattform Makroskop ging dagegen bisher von einer wirtschaftlichen Entwicklung in der Form des mathematischen Wurzelzeichens aus: ein starker Einbruch gefolgt von einer nicht ganz so starken Erholung und der Stagnation auf diesem niedrigeren Niveau. Das war allerdings vor dem zweiten Lockdown, der in immer mehr Ländern des Euroraums ansteht. 

Auch seine Prognose eines wurzelförmigen Verlaufs für die entwickelten Volkswirtschaften von 8,1 Prozent gefolgt von einer Erholung mit einer Wachstumsrate von 5,2 Prozent für das kommende Jahr sieht der IWF mit einem großen Risiko durch einen zweiten Lockdown behaftet. Dieser ist für zahlreiche Länder der EU inzwischen allerdings schon weitgehend Realität, für Deutschland beschlossene Sache. Die Risiken überwiegen aktuell. 

Etwas anders sieht es für die Russische Föderation aus. Der Wirtschaftseinbruch durch den Lockdown dort war nicht ganz so stark. Der IWF korrigierte seine Zahlen für Russland. Noch im Juni war ein Einbruch von 6,6 erwartet worden, im Oktober erwartet der IWF einen Rückgang von nur noch 4,1 Prozent für das laufende Jahr.

Sicherlich, auch in Russland fährt die Regierung auf Sicht, reagiert kurzfristig mit immer neuen Förderprogrammen auf die sich abzeichnenden Risiken. Auch hier sind regionale Lockdowns und finanzielle Hilfen ein Thema. Vor wenigen Tagen erst wurde ein weiteres Hilfsprogramm für Familien mit Kindern verabschiedet, das die bereits bestehenden Unterstützungen nochmals ausweitet.

Insgesamt unterscheiden sich die Möglichkeiten, auf die Krise zu reagieren, aber grundlegend. Während die EU und insbesondere die Währungsunion noch mit den Folgen der globalen Finanzkrise von 2008 zu kämpfen hat, die Schuldenstände hoch, die Inflationsrate aber weit weg von den vertraglich vereinbarten knapp unter zwei Prozent liegen, zählt die Russische Föderation mit einer Verschuldung von 19 Prozent des BIP zu den am geringsten verschuldeten Ländern der Welt.

Bedingt durch die deutlich bessere Kooperation von Zentralbank und Regierung hat Russland weit mehr Spielräume zur Verfügung als die Länder der Währungsunion. Die russische Zentralbank nimmt Preisstabilität bei einer Inflationsrate von vier Prozent an. Dieser Wert wurde im vergangenen Jahr erreicht und wird für dieses Jahr prognostiziert. 

Die Direktorin der russischen Zentralbank Elwira Nabiullina teilte in der Pressekonferenz vom 23. Oktober daher mit, die Zentralbank werde den Leitzins unverändert bei 4,25 Prozent belassen. Auch hier ist deutlich mehr Spielraum vorhanden als bei der EZB, die das konventionelle Steuerungsmittel der Leitzinssenkung zur Ankurbelung der Konjunktur völlig ausgereizt hat. Der Leitzins liegt in der Eurozone bei null Prozent, die Preisentwicklung in der Eurozone ist deflationär. Der Preisauftrieb ist aktuell negativ mit -0,3 Prozent.

Zwar ist der Rubel deutlich gefallen. Ein Euro kostet inzwischen wieder 90 Rubel wie bereits 2016 infolge der Krimkrise und des sich daran anschließenden Sanktionskrieges. Allerdings sehen russische Politiker und Ökonomen in dieser Verteuerung der Importe aus dem Ausland auch die Chance, den Prozess zu verstetigen, der mit den Sanktionen gegen Russland 2014 begann, ausländische Produkte durch inländische Erzeugnisse zu ersetzen. 

Der IWF weist in seiner Prognose auf Unsicherheiten hin. Ein Aspekt, der zu einem deutlich früheren Krisenende führen kann, ist laut IWF die frühe Verfügbarkeit eines Impfstoffes. Auch hier hat Russland die Nase vorn. Ab Dezember soll bereits mit Massenimfpunngen begonnen werden. Die EU setzt auf die Kooperation der Firma BioNTech mit dem US-Pharma-Giganten Pfizer und die Entwicklung eines experimentellen mRNA-Impfstoffes, der voraussichtlich deutlich weniger Akzeptanz finden wird als konventionelle Vektor-Impfstoffe wie das von Russland produzierte Sputnik V. 

Grundsätzlich positiv bewertet der IWF den Wiederaufbaufonds der EU im Rahmen des Programms Next Generation EU. Aber auch hier gibt es erhebliche Risiken, denn bisher stehen die zur Verteilung vorgesehenen Gelder noch gar nicht zur Verfügung. Eine planmäßige Auszahlung ist durch den Streit der EU-Finanzminister über die Auszahlungsmodalitäten und die Rechtmäßigkeit der Kreditaufnahme durch die EU-Kommission gefährdet.  

So lässt sich zusammenfassen, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auch in Europa große Unterschiede aufweisen. In der EU und insbesondere in der Währungsunion treten die strukturellen Schwächen nun offen zutage. Auch die europäischen Volkswirtschaften außerhalb der EU sind von der Corona-Krise betroffen.

Allerdings sind die strukturellen Gegebenheiten dort andere. Insbesondere Russland verfügt über ein wesentlich solideres System als der Euroraum. So ist absehbar, dass die Volkswirtschaften in Europa die Krise auch in unterschiedlicher Weise bewältigen und unterschiedlich aus ihr hervorgehen. Während für die Eurozone eine langanhaltende Stagnation zu erwarten ist, werden Länder wie Russland schon bald wieder auf den Wachstumspfad zurückkehren. Der Kontinent Europa driftet auch ökonomisch immer weiter auseinander. Corona wirkt hier wie ein den Prozess beschleunigender Katalysator.

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