Meinung

Der Laizismus – ein französisches Unikat

Der grausame Terroranschlag auf den Lehrer Samuel Paty bewegt die Franzosen intensiv. Es ist ein Angriff auf die Republik, die seit Jahrzehnten wieder um die Trennung von Politik und Religion ringt. Ein Blick auf die Religionsfreiheit in Zeiten der Pandemie und des islamistischen Terrorismus.
Der Laizismus – ein französisches UnikatQuelle: AFP © Asif Hassan

von Karin Kneissl

Vor zehn Tagen wurde in einem Pariser Vorort der Lehrer Samuel Paty (47) vor seiner Schule, an der er Geschichte und Geographie lehrte, ermordet und enthauptet. Der Täter war ein 18-jähriger Islamist, dessen tschetschenische Familie vor 16 Jahren in Frankreich Asyl erhalten hatte. Auslöser für diesen grausamen Anschlag war die Tatsache, dass Paty im Unterricht anhand von Islam-Karikaturen Themen wie Meinungsfreiheit und Säkularismus, also die Trennung von Politik und Religion, mit seinen Schülern diskutierte. Dieser Anschlag bewegt Frankreich heftig, die Debatten in den Familien, in der Politik und medial reißen nicht ab.

Fünf Tage später wurde das Terroropfer mit allen Ehren von Präsident Emmanuel Macron an der Sorbonne gewürdigt. "Der Lehrer Samuel Paty machte aus seinen Schülern junge Republikaner" war eine der wesentlichen Aussagen der emotionalen Rede des Präsidenten. Der französische Republikanismus basiert auf der Französischen Revolution von 1789. Eine rigide Trennung von Staat und Kirche entstand damals inmitten des Terrorregimes der Revolutionäre. Im Jahre 1905 wurde der Laizismus dann zur weiterhin gültigen Grundlage Frankreichs. Was darunter zu verstehen ist und wie diese französische Besonderheit entstand, wird in diesem Beitrag skizziert.

Mit dem Aufruf zum Boykott französischer Waren in der islamischen Welt infolge einer neu aufgeflammten Debatte zum Islam in Frankreich verschärft sich die Situation zunehmend. Vorausgeschickt sei: Das ist nichts Neues. Das Thema hat viel Literatur und Seminare geschaffen und immer wieder für diplomatische Verwerfungen zwischen Paris und dem Rest der Welt geführt. Der Terrorismus und andere Formen der Gewalt der letzten Jahrzehnte haben diese in Frankreich hochgehaltene Tradition des Säkularismus und seiner ganz besonderen französischen Ausprägung des Laizismus immer wieder angegriffen.

Republikaner, Islamismus und die Weltpolitik

Der Begriff des "islamistischen Separatismus" taucht seit Wochen regelmäßig im Diskurs von Macron auf; ein Gesetz zum Verbot von selbigem soll Anfang Dezember durch das Parlament. In dieser aufgeheizten nationalen Debatte, in der es auch um die Positionierung gegenüber den geschwächten politischen Rivalen, den Rechtsextremen geht, ist nun eine internationale Dimension hinzugekommen. Der türkische Präsident Recep T. Erdoğan hat das Thema, das erstmals 2006 infolge der damaligen dänischen Karikaturen die internationale Politik aufwirbelte, nun mit sehr persönlichen Attacken auf Macron aufgegriffen. Paris und Ankara befinden sich seit geraumer Zeit auf Konfrontationskurs – ob in Libyen, im östlichen Mittelmeer oder in Syrien, um nur einige der Schauplätze zu nennen.

Geschichte und Gegenwart, blinde Gewalt und vor allem starke Emotionen beherrschen das Weltgeschehen seit jeher. Der Prophet schrieb einst im Kohelet, in seinem Buch der Weisheit: "Es geschieht nichts Neues unter der Sonne."

Kaum irgendwo in Europa tobten einst die Religionskriege so intensiv wie in Frankreich. Protestanten erhoben sich gegen den katholischen König und damit gegen die Staatsmacht, wie dies auch in Deutschland im Reich der Habsburger der Fall war. Es ging um Machtaufteilung und nicht nur um Theologie. Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges illustrieren grausam, wie der Krieg zum Geschäft wurde und fast die Hälfte der Bevölkerung im Kriegsgebiet ums Leben kam. Das Gezerre um Religionsfreiheit und damit Anerkennung der reformierten Kirche, also jener, die der Lehre von Johannes Calvin aus Genf folgten, zog sich im französischen Königreich durch die Jahrhunderte. Die Reformierten wurden auch als Hugenotten bezeichneten. Der Name kommt vielleicht von "Eidgenossen", wäre damit Schweizer Ursprung, was sich aus der Verbindung mit der Reformation in der Schweiz erklärt.

Das Massaker in der Bartholomäusnacht vom 23. zum 24. August 1572 war nur ein blutiges Kapitel in einer langen Reihe von gewaltvollen Auseinandersetzungen, die durch Aussöhnungsversuche, wie das Edikt von Nantes 1598, unterbrochen wurden. Ludwig XIV. löste dieses 1685 auf, was wiederum die Hugenotten in die Flucht zwang. Von diesen Emigranten sollte das noch unbedeutende Preußen profitieren, brachten sie doch Bildung und Unternehmergeist mit. Die französischen Namen tragen die Nachfahren heute noch.

Protestantischer Widerstand

In den Bergen der Cevennen in der nördlichen Provence hielten die Protestanten aber die Stellung, sie weigerten sich zu flüchten. 1702 kam es zur Revolte der Kamisarden. Der Name Camisard bedeutet Hemdträger. Im einstigen Wohnhaus des Anführers der Revolte Pierre Laporte, bekannt als "Rolland", ist seit über einem Jahrhundert ein Museum eingerichtet. Die Heldenerzählungen jenes Aufstands wurden bald zum Mythos, aber auch zum Modellfall eines Partisanenkampfes. Nächtliche Angriffe und Guerillataktik – wie etwa, sich unter Zivilisten zu verstecken und viele kleine Kampfeinheiten aufzubauen, die die Soldaten des königlichen Heeres verwirrten – machten diese Revolte aus. Dazwischen fanden die Gläubigen sich zu Gottesdiensten im Wald ein, auch das war Widerstand. Kinder zogen zudem als Propheten durch das Land und wurden als Stimmen göttlicher Boten verehrt. Eine zweifellos wilde Zeit, die aber in unserer absurden Gegenwart der vielen Glaubenskriege und Warner vor dem Weltuntergang vielleicht gar nicht so seltsam erscheinen mag.

Es folgte einige Jahrzehnte später die Französische Revolution mit der "terreur", in der das religiöse Erbe ausgehebelt wurde. Ähnlich wie in der russischen Oktoberrevolution verschwanden Glaube, Klerus und Kirchen aus dem zuvor durch und durch religiös geprägten Alltag der Menschen. Die Religion kehrte mit der Wiedereinsetzung der Monarchie nach dem Ende Napoleons zurück.

Rigide Trennung von Politik und Religion

Die Revolution von 1789 hinterließ ihre tiefen Spuren, wenn es um die Stellung der Religion geht. Der Citoyen, also der Bürger, der frei von allen religiösen oder damit verbundenen ethnischen Bindungen sein sollte, war das republikanische Ideal. Letzteres versuchte Frankreich über die Frankophonie wie auch den Kolonialismus in den Rest der Welt zu exportieren. Der Erfolg ist mäßig, denn abgesehen von Kemal Atatürk, dem Begründer der modernen Türkei 1923, konnten sich kaum Gesellschaften jenseits von Frankreich dafür erwärmen. Sind die Menschen im Rest der Welt doch eher fromm? Die Kemalisten in der Türkei, die sich im Namen des Islam stark verändert hat, sind jedenfalls schwächer. Auch das säkulare Frankreich kennt Marienverehrung und große Messen. Die Religion wird jedoch aus der Verwaltung und dem gesamten öffentlichen Raum ausgesperrt.

Jedenfalls hat das republikanische Konzept des Citoyens mich seit Jugendtagen fasziniert, denn dem Individuum steht dank Leistung der Weg frei. Nicht die Familie, nicht die Ethnie und schon gar nicht die Religion zählen, sondern es geht ausschließlich um Meritokratie, also Leistung. Das kannte ich aus Österreich nicht, wo andere Kriterien dem Einzelnen die Wege eröffnen oder versperren. In Wien zählt weniger der jeweilige Bürger mit seinen Talenten, vielmehr dessen Verbindungen zu diversen Cliquen entscheiden über den Aufstieg.

Die Trennung von Staat und Kirche wurde per Gesetz letztlich 1905 normiert. Das Gesetz zum Laizismus, das Ministerpräsident Émile Combes gegen den starken Widerstand der kirchentreuen Bevölkerungsteile durchfocht, galt zwar vor allem der katholischen Kirche, doch im Sinne der Neutralität wurden die anderen Konfessionen ebenso einbezogen. Frankreich ist seither laizistisch, wie es auch der Artikel 1 der Verfassung der Fünften Republik von 1958 betont. Was bedeutet dies in der Praxis? Der Staat gestattet keinen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen, die Glaubensgemeinschaften sind rechtlich nur private Vereine, ihre Finanzierung erfolgt darüber; zudem ist das Tragen religiöser Symbole in den öffentlichen Schulen seit 2004 verboten. Dazu gehört wohl in erster Linie das Kopftuch, das die islamische Praxis teils kennt, nicht aber der Koran; ebenso die jüdische Kippa oder große christliche Symbole an Halsketten sind in öffentlichen Schulen nicht gestattet.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekämpften Monarchisten, der Klerus, Militärs wie auch viele bürgerliche Kreise intensiv diese Rechtsetzung, doch vergeblich. Zwar zeigten sich mit der Bürgerbewegung "Manif pour tous" (Demonstration für alle), die sich anfänglich gegen die gleichgeschlechtliche Partnerschaft richtete, dann viele weitere Themen in der Amtszeit von François Hollande aufgriff, wieder solche Allianzen. Doch das eigentliche Problem mit dem rigiden Laizismus haben heute eher die Radikalen unter den rund sechs Millionen Muslimen, die Schätzungen zufolge in Frankreich leben.

Die große Mehrheit unter ihnen stammt aus dem westlichen Nordafrika. Die zweite und dritte Generation der Maghrebiner fühlt sich oftmals abgehängt, was sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nochmals verstärkt. Anders als bei den im deutschen Sprachraum zugewanderten Menschen aus der Türkei oder den arabischen Ländern stellte sich die Sprachenfrage für die große Mehrheit der Muslime nie. Denn die meisten in Frankreich lebenden Araber sprechen meist ein exzellentes Französisch. Ich verdanke meine Kenntnisse der französischen Sprache vor allem arabischen Freunden, was mir später auch den Zugang zur Verwaltungsakademie der ENA ermöglichte. Hier lernte ich nicht nur viel über die französische Administration, die u.a. in die EU-Institutionen exportiert wurde.

Ich erfuhr vor allem viel über die französische Selbstwahrnehmung, die eine säkulare Gesellschaft als ihre Basis sieht. Darauf gründet sich auch all das, was in Frankreich unter "Universalisme" fällt. Denn jene Werte, welche die Französische Revolution mit viel Gewalt und Zerstörung hervorgebracht hat, also "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" gelten als die großen Themen aller Menschen zu allen Zeiten. Ihnen selbige zu ermöglichen – darin sah und sieht sich Frankreich in seiner weltpolitischen Verantwortung. Doch dieses Konzept leidet an vielen inneren Rissen und nicht nur an internationalem Bedeutungsverlust. Die Welt hat sich in völlig neue Richtungen gedreht, wobei die Rückkehr des Religiösen, wie es der französische Kulturminister und Schriftsteller André Malraux bereits vor 70 Jahren formuliert haben soll, hineinspielt. Wird ihm doch die Aussage zugeordnet, dass das 21. Jahrhundert ein religiöses sein würde, wobei unklar ist, ob er nur an eine Renaissance der Spiritualität oder eine politische Agenda der Religionen dachte.

Islam und Laizismus à la française

Der Pariser Soziologe Gilles Kepel verfasste bereits in den 1980er Jahren zahlreiche empirische Studien über die Rückkehr religiöser Ideen in Frankreich. So befasster er sich mit radikalen Predigern in den vielen "Banlieues", also den oft vernachlässigten Vororten der großen französischen Städte, zu einem Zeitpunkt, als dieses Thema noch lange nicht in der Politik angekommen war. Sein Buch "La Revanche de Dieu" (Die Rache Gottes) erschien von 30 Jahren und legte eine vergleichende Darstellung der wachsenden politischen Einflussnahme von Evangelikalen in den USA, der Islamisten in der muslimischen Welt wie auch nationalreligiöser Hindus und Juden. Kepel sollte mit seiner damaligen Analyse recht behalten. Er verfasst dann zwar 2002 ein "Schwarzbuch des Islamismus", indem er Thesen über ein Ende selbigen aufstellte, die sich als falsch erwiesen. Aber in seinen frühen Arbeiten legte Kepel einige zutreffende Untersuchungen vor.

Studien und Publikationen zur Positionierung eines "republikanischen Islams" haben ein Business rund um den Islam geschaffen. Das Thema würde aber in Frankreich bald über die akademische Auseinandersetzung hinausgehen. Die Liste der islamistisch motivierten Anschläge ist lang. Das Jahr 2015 begann mit den Angriffen auf die Redaktion eines Satire-Magazins, das sich mit Karikaturen über sämtliche Religionen regelmäßig lustig machte, und endete mit den Anschlägen auf das Theater Bataclan. Der Angriff auf den Lehrer Paty lässt Erinnerungen an Gewalt und Einschüchterung wach werden, eine große Bewegung der Solidarität erfasst seither das Land, die vor allem den oft geschmähten Lehrern gilt, die viele Beispiele aus schwierigen Auseinandersetzungen zum Thema Islam erzählen können.

Macron weiß die Mehrheit der französischen Bevölkerung hinter sich, wenn er den Laizismus als Kern der republikanischen Ideale hochhält und die Tagespolitik derart dominiert, dass sogar die Ausgangssperren, die von 21 bis 6 Uhr fast landesweit gelten, in den Hintergrund treten. Wenn nun zusätzlich ein Druck von außen kommt, wie in diesen Tagen mit Boykottaufrufen aus der islamischen Welt, dann tritt ein "Déjà-vu"  der Emotionen hervor. In Zeiten der Pandemie liegen aber die Nerven überall blank, denn Wirtschaftskrise und soziale Spannungen erfassen die Gesellschaften sowohl Frankreich als auch andernorts. Es ist geradezu ein Paradoxon der Geschichte, dass gerade im revolutionären und säkularen Frankreich die Glaubenskriege immer wieder das Land mitgeprägt haben. Es wäre nun Zeit für eine Politik der Aussöhnung nicht für eine der Konfrontation, wie sie Ludwig XIV. unternahm. Er gewann zwar den Glaubenskrieg seiner Zeit, aber suchte auch die Allianz mit den Osmanen.

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Karin Kneissl lebt und arbeitet derzeit in einem kleinen Dorf in den Cevennen in Frankreich. Sie absolvierte die ENA (1993), war u.a. unabhängige Außenministerin von Österreich und ist nun wieder in der Analyse und als Buchautorin tätig.

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