Gesellschaft

Frankreich: Wieso blieb Radikalisierung des Lehrermörders von der Polizei so lange unbemerkt?

Die Radikalisierung des Mörders des Lehrers nahe Paris blieb, einschließlich seiner Kontakte zu einem mutmaßlichen Terroristen im syrischen Idlib, offenbar monatelang den Sicherheitsdiensten Frankreichs verborgen. Manche beschuldigen in diesem Zusammenhang soziale Netzwerke.
Frankreich: Wieso blieb Radikalisierung des Lehrermörders von der Polizei so lange unbemerkt?Quelle: RT

Seine komplette Abkehr vom Alkohol und von der holden Weiblichkeit, mehrmals täglich Ermahnungen zum Gebet an Freunde und Verwandte – dies machte zunächst viele im Umfeld von Abdoullakh Anzorov durchaus stutzig. Ganz zu schweigen von der Flagge der Terrormiliz Islamischer Staat als Hintergrundbild auf dem Smartphone des Jugendlichen. Die nachweislich radikalislamische Umtriebigkeit des 18-Jährigen in den sozialen Netzwerken, die später in Conflans-Saint-Honorine bei Paris dem Geschichtslehrer Samuel Paty zum Verhängnis wurde, hätte aber auch die zuständigen Behörden Frankreichs alarmieren müssen. Wie konnte die Radikalisierung des tschetschenischstämmigen jungen Franzosen also so lange unter dem Radar der Ordnungshüter bleiben?

Der 18-jährige Abdoullakh Anzorov, der in Conflans-Saint-Honorine bei Paris einen Geschichtslehrer köpfte, machte keinen Hehl aus seiner Sympathie für radikalen Islamismus – und unterhielt über Instagram Kontakte zu einem mutmaßlichen Terroristen in der syrischen Provinz Idlib, schrieb am Mittwoch die Zeitung Le Parisien am Mittwochmit Verweis auf interne Quellen bei den französischen Sicherheitsdiensten. Diese Radikalisierung soll bei dem Jugendlichen aus Évreux stattliche sechs bis zwölf Monate in Anspruch genommen haben – und hat sich wohl alles andere als schleichend oder gar heimlich vollzogen.

Neben dem radikalislamisch motivierten Mord am Geschichtslehrer Samuel Paty als dem letzten und offensichtlichsten Indiz für den Grad an Radikalisierung gab es reichlich andere.

Grad der Radikalisierung

Eine Vorstellung vom Grad der Radikalisierung des Jugendlichen vermittelt heute die Korrespondenz mit einem in der syrischen Provinz Idlib ansässigen mutmaßlichen Mitglied der Terrormiliz Hai’at Tahrir asch-Scham (früher auch als Nusra-Front bekannt, ein Ableger der Al-Qaida). Die frühesten dokumentierten Fälle dieser Kommunikation fanden laut Quellen von Le Parisien gut einen Monat vor dem Anschlag statt: Vom 12. bis zum 14. September unterhielt sich der 18jährige unter dem Pseudonym "Al_Ansar_270" auf Russisch mit einem Internetnutzer namens "12.7X108" über das soziale Netzwerk Instagram. Er stellte dem Gesprächspartner (der sich dort nach dem Kaliber einer sowjetischen, später russischen Maschinengewehrpatrone benennt) Fragen zur Religion – etwa zur Vereinbarkeit des "Märtyrertums" mit dem Islam und zur Hidschra (Auswanderung in ein muslimisches Land). Von seinem Gegenüber mit dem martialischen Pseudonym erfuhr Abdoullakh von der Möglichkeit, in ein anderes Land zu ziehen – "um zu kämpfen". Seine Bereitschaft zum "Kampf" brachte der Jugendliche deutlich zum Ausdruck.

Die Tatsache der Kontaktaufnahme durch Abdoullakh Anzorov mit seinem radikalem Gesprächspartner wurde im Laufe einer gemeinsamen Untersuchung der Antiterroreinheit der nationalen Polizei und der französischen Generaldirektion für innere Sicherheit festgestellt – und über die IP-Adresse auch der Aufenthaltsort dieser Person ermittelt: Die syrische Provinz Idlib ist neben dem Lager Rukban eine der zwei letzten verbliebenen Hochburgen radikalislamischer Terrormilizen in Syrien. Die Identität des Gesprächspartners konnte nach heutigem Stand noch nicht geklärt werden. Die Zugehörigkeit des syrischen Gesprächspartners wird anhand einer später, am 4. Oktober, an zwei bisher nicht ermittelte Gesprächspartner im sozialen Netzwerk Snapchat verschickten Nachricht vermutet, der zufolge in Idlib der "wahre Dschihad" stattfinde und Hai’at Tahrir asch-Scham die "beste Gruppierung" dort sei, "der man sich zu Dschihad-Zwecken anschließen kann".

Radikalisierung unter dem Radar der Sicherheitsdienste

Doch für breitere Personenkreise sichtbare Anzeichen gab es auch – und sie traten sogar deutlich früher auf.

So sagten die Verwandten des jungen Mannes bei der polizeilichen Vernehmung aus, dass er seit dem letzten Frühjahr radikalen religiösen Ideen gegenüber deutlich aufgeschlossener geworden sei: Abdoullakh wurde beim Freitagsgebet eifriger und begann, sich Redeaufnahmen von Predigern anzusehen, die seine Eltern als radikal einstuften. Ihrer Meinung nach sollen zwei seiner Freunde aus dem Fitnessstudio, Naim B. und Azim E., die laut den Ermittlungen Anzorov auch geholfen haben, ein Kampfmesser und zwei Airsoft-Pistolen zu kaufen, zur Radikalisierung ihres Sohnes beigetragen haben.

Naim und Azim selbst versicherten hingegen, dass Abdoullakhs Radikalisierung sage und schreibe ein Jahr vor dem Terroranschlag begann: Er soll zu dieser Zeit aufgehört haben, "normale" Musik zu hören, Alkohol zu trinken und mit Frauen zu kommunizieren. Er begann, radikalislamistische Kriegslieder zu  hören und Freunden Gebetserinnerungen zu schicken. Die Erinnerungen gipfelten in der Äußerung, ein Gebet zu verpassen sei übler als "sich an einem Mann zu vergehen". Nach Angaben von Azim E. wurde Anzorov aggressiv: So geriet er einmal in eine Rangelei mit Gemeindemitgliedern einer Moschee in Fauville – und zwar ausdrücklich, weil diese ihn der Absicht verdächtigten, den Dschihad zu führen.

Als weitere Anzeichen für eine Radikalisierung erwähnten die beiden Freunde insbesondere die Flagge der Terrormiliz "Islamischer Staat", die der junge Mann als Hintergrundbild für sein Smartphone wählte.

Über das Smartphone des Jugendlichen, an seiner Leiche sichergestellt, wurden die Ermittler dann auch auf Abdoullakhs persönliche Seite Tchétchène_270 im sozialen Netzwerk Twitter aufmerksam. Diese Seite enthielt reichlich Aufzeichnungen zur Unterstützung von Extremisten, ebenso religiös motivierte Drohungen.

Der letzte Alarm

Zwei dieser Aufnahmen wurden sogar über das spezialisierte Polizei-Onlineportal Pharos beanstandet –  eine Aufnahme am 24. Juni, also immerhin ein Vierteljahr vor dem Mord am Geschichtslehrer.

Nach einer weiteren Beschwerde am 11. September übermittelte die Polizei Informationen über ihn an UCLAT, die französische Koordinierungsstelle für die Terrorbekämpfung. Le Parisien merkt jedoch an, dass "solche Warnungen fast täglich zu Tausenden einlaufen", und die unmittelbar ins Haus stehende Bedrohung durch Abdoullakh sei daher nicht als besonders hoch eingeschätzt worden.

"Wer ist schuld, und was ist zu tun?"

Die französische Gesellschaft, Politik und Sicherheitsdienste des Landes sehen sich nun alle mit der Frage konfrontiert, ob man Abdoullakh Anzorov aufgrund seines Verhaltens und seiner Kontakte als radikalisierungsgefährdet hätte identifizieren und strenger überwachen können.

Eine geheimdienstnahe Quelle verteidigte sich im Gespräch mit Le Parisien:

Man muss sich zunächst fragen, ob diese Signale vernehmbar waren und wie sie hätten eingeordnet werden können. Es gibt immer Schlupflöcher, aber wir dürfen nicht den falschen Kampf führen: Der Kampf, den wir führen müssen, ist der Kampf gegen den politischen Islam, der unsere Institutionen zersetzt.

Soziale Netzwerke als Weg zur Radikalisierung

Frankreichs beigeordnete Ministerin für Staatsbürgerschaft Marlène Schiappa sieht einen Weg, auf dem diese Zersetzung stattfindet, zum Beispiel vor allem in den sozialen Netzwerken. Ihnen gibt die Ministerin eine Schuld an der Radikalisierung Jugendlicher, etwa weil sie radikale Inhalte bei weitem nicht schnell genug entfernen lassen. Abdoullakh Anzorovs Mord am Geschichtslehrer Samuel Paty nahm sie am Dienstag zum Anlass, die für Frankreich zuständigen Manager der größten Internetplattformen Facebook, Google, Twitter, TikTok und Snapchat zu einer Beratungsrunde zusammenzurufen, "um den Cyber-Islamismus zu bekämpfen", schreibt  France 24.

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