Gesellschaft

"Die Herstellung der Verfassungsmäßigkeit" – Das Dauerfeuer von Ralph Boes gegen Hartz-IV-Schikanen

Hungersanktionen auf 30 Prozent abgemildert: Nach einem Urteil aus Karlsruhe erstritt sich Hartz-IV-Aktivist Ralph Boes bereits Tausende Euro zurück. Nun wollte er zwei seiner Strafen ganz aufheben lassen. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg spielte nicht mit.
"Die Herstellung der Verfassungsmäßigkeit" – Das Dauerfeuer von Ralph Boes gegen Hartz-IV-SchikanenQuelle: www.globallookpress.com © imago stock&people via www.imago-images.de

von Susan Bonath

Aus 60 und 100 Prozent mach 30 Prozent: Zu Recht habe das Berliner Jobcenter zwei hohe Sanktionen gegen den Hartz-IV-Aktivisten Ralph Boes aus den Jahren 2013 und 2014 nachträglich abgemildert, anstatt sie aufzuheben. Das entschied vergangene Woche das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg. Nach jahrelangem Rechtsstreit wies Richter Knut Haack damit die Berufung des 63-Jährigen gegen ein Urteil der Vorinstanz ab. Boes kann trotzdem einen Teilerfolg für Hunderttausende Betroffene verbuchen. Denn dass das Jobcenter seit einem knappen Jahr die Grundsicherung nicht mehr bis auf null kürzen darf, wenn Bedürftige nicht parieren, hat viel mit seinem Aufstand zu tun. 

Gehorsam verweigert, Musterklage verfasst, öffentlich gehungert

Ralph Boes spielt seit vielen Jahren nicht mehr mit. Er ging nach eigenen Angaben freiwillig ins Hartz-IV-System. Dort spielte er nicht mit, schrieb keine Bewerbungen, ignorierte Zuweisungen der Behörde für Maßnahmen und Jobs. Er ließ sich absichtlich sanktionieren, erst zu 30, dann zu 60 und schließlich zu 100 Prozent, um zu klagen. Sein Ziel war es, die Sanktionspraxis zu kippen. "Ich war fast drei Jahre lang durchgängig voll sanktioniert", blickt er zurück. Das heißt auch: Er war nicht mehr krankenversichert und seine Bleibe konnte er nur dank seiner Initiative "Grundeinkommen" halten, wie er im Gespräch mit der Autorin erklärt. Mit einem wochenlangen "Sanktionshungern" war Boes vor Jahren in den Schlagzeilen.

Doch die ganze Zeit über habe er "richtig gearbeitet", erinnerte sich der Aktivist. Er wollte nach Karlsruhe. Im Auftrag seiner Initiative erstellten die Juristen Isabel Erdem und Wolfgang Neškovic eine Mustervorlage, mit der sich Sozialrichter an die höchste Bundesinstanz wenden konnten. Die Hürden für diesen Weg waren enorm: Erstens musste sich eine Kammer finden, die die Sanktionspraxis überhaupt als Verstoß gegen Grundrechte ansah. Zweitens musste diese einen Fall auf den Tisch bekommen, bei dem sie alle Gründe für eine anderweitige Aufhebung der Kürzung, darunter auch formale Mängel im Bescheid, ausschließen konnte. Drittens musste ein Kläger oder eine Klägerin mit diesem Weg nach Karlsruhe einverstanden sein. 

Hohe Sanktionen für verfassungswidrig erklärt 

Umsonst war die Arbeit nicht. Eine Kammer des Sozialgerichts Gotha zog 2015 mit dem Fall eines Betroffenen vor das höchste Gericht – und nutzte dafür weite Teile der Vorlage von Erdem und Neškovic. Die Kürzungen des als Existenzminimum deklarierten Hartz-IV-Satzes verstießen gegen die Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und freie Berufswahl, sie kämen einer schweren Strafe gleich, hieß es darin unter anderem. 

In einer Stellungnahme beanstandete die Rechtsanwaltskanzlei des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), Redeker Sellner Dahs, die Hilfe von außen: Man habe "durchgreifende Bedenken gegen die Zulässigkeit der Vorlage". Denn die Kammer habe "eine im Internet verfügbare Musterbegründung einer Bürgerinitiative nahezu wörtlich übernommen" und somit "nicht aus eigener Überzeugung gehandelt". 

Die Gegenwehr des BMAS lief weitgehend ins Leere. Zwar mahlten die höchstrichterlichen Mühlen langsam. Das Urteil aber, das Ende 2019 erging, schlug hohe Wellen: 15 Jahre verfassungswidrige Verletzung elementarer Grundrechte. In einem Hauruckverfahren musste das Ministerium alle Kürzungen von über 30 Prozent aussetzen. Das Gesetz soll nun angepasst werden. 

"Niedriglöhne subventioniert, Beschäftigte erpresst" 

Das Urteil aus Karlsruhe verschaffte auch Boes' zahlreichen Verfahren, die in der Warteschleife der Instanzen hingen, Aufwind zu seinen Gunsten. Etliche seiner Sanktionen haben Jobcenter selbst oder Gerichte seither von 60 oder 100 auf 30 Prozent abgesenkt. "Da kommt jetzt immer mal Geld von der Bundesagentur für Arbeit, bisher waren das schon mehrere Tausend Euro, die sie mir damals vorenthalten hatten", berichtet er. Allerdings warte er bis heute auf die Erstattung diverser Krankenkassenbeiträge.

Von der LSG-Entscheidung ist Boes trotzdem enttäuscht. "Ich wollte erreichen, dass sie die Sanktionen ganz aufheben." Denn er habe einen wichtigen Grund für sein Verhalten gehabt: "Die Herstellung der Verfassungsmäßigkeit", klärt er auf und fügt an: Seine Weigerung, Jobs anzunehmen, habe dazu beigetragen, dass die Sanktionspraxis am Bundesverfassungsgericht verhandelt wurde. Wie zu erwarten war, ließ Richter Haack sich darauf nicht ein. Auch formelle Kritik verwarf er. "Wir haben damit argumentiert, dass rechtswidrige Bescheide nicht einfach abgemildert werden können, sondern aufgehoben werden müssten", sagte Boes. Er will nun erst einmal auf das schriftliche Urteil warten. 

Seinen Kampf gegen die Sanktionen will Boes aber fortsetzen. Das "autoritäre und repressive Hartz-IV-System" bringe nicht nur Erwerbslosen viel Leid, so Boes. "Es dient ja vor allem dazu, den Unternehmen Niedriglöhne zu subventionieren und Beschäftigte zu erpressen", führt er aus. Wer noch einen Arbeitsplatz habe, werde in Angst versetzt. "Wer fürchten muss, nach einem Jahr Arbeitslosengeld in Hartz IV zu rutschen, der lässt viel mehr mit sich machen und akzeptiert meist auch niedrigste Löhne."

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