Wirtschaft

Finanzexperte erklärt: Rezession in Türkei Ergebnis eines zu schnellen Wirtschaftswachstums

Im Interview mit RT Deutsch erklärt die türkische Ökonomin Selva Demiralp die Hintergründe für das Schwächeln der türkischen Ökonomie. Außerdem erläutert sie die Rolle des innenpolitischen Drucks und warum die Türkei nicht von einer schwachen Währung profitieren kann.
Finanzexperte erklärt: Rezession in Türkei Ergebnis eines zu schnellen WirtschaftswachstumsQuelle: AFP

von Ali Özkök

Selva Demiralp ist Wirtschaftsprofessorin an der renommierten Istanbuler Koç-Universität und leitet als Direktorin das Wirtschaftsforschungsinstitut eines der wichtigsten Unternehmerverbände des Landes, TÜSIAD, wo sie auch im intensiven Austausch mit der türkischen Zentralbank steht. Zuvor war sie als Ökonomin des Federal Reserve Boards tätig.

Die türkische Wirtschaft rutschte im vierten Quartal 2018 in die Rezession, während die Wirtschaft im Gesamtjahr ja noch um 2,6 Prozent wuchs. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für die Diskrepanz der Wachstumszahlen?

Der Grund für die Diskrepanz ist die deutliche Veränderung der Dynamik in der zweiten Jahreshälfte. Die türkische Wirtschaft ist seit 2017 über ihr Potenzial hinaus zu schnell gewachsen und deshalb überhitzt. Wachstum über das eigene Potenzial hinaus ist nicht nachhaltig. Dies gilt insbesondere in einer offenen Wirtschaft, in der das Wachstum durch externe Kreditaufnahme finanziert wird. Die hohen Wachstumszahlen, die wir seit 2017 verzeichnen konnten, lösten Inflationserwartungen aus und erhöhten unsere Anfälligkeit gegenüber Wechselkursschwankungen. Dieser Druck wurde Anfang 2018 sichtbar. Der eigentliche Schlag kam jedoch nach der Wechselkurskrise im August 2018, woraufhin sich die Abschwächung deutlich verstärkte.

Der türkische Finanzminister Albayrak sagte, die Türkei habe das Schlimmste überwunden. Wie beurteilen Sie die langfristigen Perspektiven?

Die Inflation ist die Schlüsselvariable im Selbstregulierungsmechanismus der Wirtschaft. Es ist der Anstieg der Inflationsrate, der die Nachfrage verlangsamt und eine überhitzte Wirtschaft abkühlt.

In Zukunft scheint es nicht wahrscheinlich, dass die Inflation auf ein Niveau sinken wird, das mit unserem 5-Prozent-Inflationsziel übereinstimmt. In Ermangelung dessen glaube ich nicht, dass wir eine schnelle Erholung sehen werden. Es stimmt, dass die Inflation gegenüber ihrem hohen Niveau wahrscheinlich um einige Prozentpunkte sinken wird, aber das wird nicht ausreichen, um die Zinsen auf ein ausreichend niedriges Niveau zu bringen, um so eine schnelle Erholung anzuregen.

Darüber hinaus deutet der Rückgang der Industrieproduktion auf eine eher pessimistische Einschätzung der Unternehmen für die nahe Zukunft hin, was ebenso Zweifel an einer schnellen Erholung aufkommen lässt.  

Einer der Gründe für diese grobe Verlangsamung des Wachstums ist unsere Produktionsstruktur, die auf den Import von Vorprodukten angewiesen ist. Wir müssen die Sektoren, in denen wir produzieren, herausheben und in diesen Sektoren einen Wettbewerbsvorteil erringen, was unsere Abhängigkeit von importierten Vorleistungsgütern verringern wird. Eine gute Koordinierung zwischen Geld- und Finanzpolitik ist auch für die Erreichung der makroökonomischen Stabilität unerlässlich.  

Welche Rolle spielen geopolitische Krisen mit ausländischen Akteuren wie den USA für die Verwundbarkeit der türkischen Wirtschaft?

Geopolitische Spannungen spielten eindeutig eine Rolle bei der Auslösung des jüngsten Wechselkursschocks und der daraus resultierenden Rezession. Die notwendige Voraussetzung für die Wirkung dieses Auslösers ist jedoch die hohe Auslandsverschuldung, die der private Sektor in der Zeit nach 2010 angesammelt hatte. Wenn ihre Auslandsverschuldung relativ niedrig wäre, wäre die Türkei nicht so empfindlich.  

In der Türkei sind in den kommenden Wochen Wahlen geplant. Werden die Wachstumszahlen die Gewinnchancen für die regierende AK-Partei unter Erdoğan beeinflussen?

Ja, die Literatur der politischen Ökonomie deutet darauf hin, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen der Wirtschaftsleistung und dem Wahlergebnis gibt. Das gilt nicht nur für die Türkei, sondern auch für andere Länder der Welt. Die Menschen neigen dazu, die bestehende Regierung zu bevorzugen, wenn sie einen Job haben. Und ebenso umgekehrt.

Für Investoren ist die Sorge groß, dass die Türkei lange mit einer Erholungsphase zu kämpfen hat, da der Strom ausländischen Kapitals versiegt, während Haushalte und Unternehmen anfangen, Schulden zu tilgen. Ist diese Sorge berechtigt?

Die türkische Auslandsverschuldung im Verhältnis zum BIP liegt bei rund 53 Prozent und ist damit höher als in anderen Schwellenländern. Dies erhöht unsere Anfälligkeit bezüglich der externen Risikobereitschaft. Glücklicherweise haben wir jedoch Signale von der US- und EU-Zentralbank über eine Verlangsamung der Umstellung auf eine straffere Politik beobachtet. Dies kann die Risikobereitschaft, in Schwellenländer zu investieren, für eine weitere Weile unterstützen. So könnte das globale Umfeld in naher Zukunft günstiger sein. Betrachtet man die inländischen Bedingungen, so unterstützt der Rückgang der Investitionen und des Verbrauchs im letzten Quartal die Behauptung, dass Haushalte und Unternehmen ihre Schulden abgebaut haben, anstatt neue Ausgaben zu tätigen.

Wie schnell sich diese Stimmung ändern wird, hängt von den richtigen politischen Maßnahmen ab, die umgesetzt werden. Die Türkei muss ihre Schwachstellen erkennen und Maßnahmen entwickeln, um ihre Probleme so schnell wie möglich zu lösen und wieder ausländisches Kapital anzuziehen.

Westliche Finanzanalysten behaupten, dass die Rezession eine Folge der Einmischung von Präsident Erdoğan in die Entscheidungen der Zentralbank ist. Wie beurteilen Sie als türkische Finanzexperten solche Aussagen?

Eine unabhängige Zentralbank ist eine notwendige Voraussetzung für die Erreichung makroökonomischer Stabilität. Denn nur eine unabhängige Zentralbank kann eine Politik umsetzen, die auf langfristige Stabilität abzielt und nicht dem politischen Druck nachgibt. In der Literatur wird dies als "Zeitinkonsistenzproblem" bezeichnet. Was kurzfristig gut für die Wirtschaft ist, damit ist mehr Wachstum gemeint, ist langfristig nicht unbedingt gut für die Wirtschaft.

Im Idealfall sollte die Wirtschaft stets mit ihrer potenziellen Produktionskapazität arbeiten. Regierungen konzentrieren sich allerdings aufgrund von Wahlzyklen in der Regel auf kurzfristige Gewinne. Aber die Zentralbank wird nicht von der Öffentlichkeit gewählt. Daher überwacht eine unabhängige Zentralbank die Produktionslücke und führt eine strenge Politik durch, um Abweichungen vom potenziellen BIP zu vermeiden. Wichtig ist in dieser Phase eine umfassende Koordination zwischen der Regierung und der Zentralbank. Wenn die Zentralbank die Zinsen nicht frei festlegen kann oder wenn eine straffe Geldpolitik von einer expansiven Fiskalpolitik begleitet wird, wie wir es nach 2017 erlebt haben, ist es schwierig, Preisstabilität zu erreichen. Die türkische Wirtschaft erlebt nun den Verlangsamungsprozess, der durch die hohen Wachstumsraten ausgelöst wurde, die wir in der Zeit nach 2017 registrierten.  

In der Zeit nach 2010 beobachten wir einen spürbaren Anstieg der Zahl der politischen Kommentare, in denen die Zentralbank aufgefordert wird, den Leitzins zu senken. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Zentralbank diesem Druck nachgab, was zu Abweichungen von der optimalen Geldpolitik führte, die zur Wahrung der Preisstabilität notwendig ist. Darüber hinaus hatte die Türkei in den letzten zehn Jahren mehr als zehn Wahlen absolviert, und die akkommodative Finanzpolitik vor den Wahlzyklen hat die Gesamtnachfrage angekurbelt, was bei der Inflationsplanung nicht hilfreich ist.

Westliche Finanzanalysten argumentieren, dass das Wirtschaftswachstum der Türkei unter Erdoğans Regierung auf Pump finanziert wurde. Wie beurteilen Sie das Wirtschaftswachstum der Türkei seit 2003?

Das Wachstum wird immer durch Kredite finanziert, überall auf der Welt. Die kritische Frage ist, was man mit dem Geld macht, das man sich leiht. Wenn die Kreditaufnahme in produktive Investitionen kanalisiert wird, dann können Sie Ihre Schulden zurückzahlen und gleichzeitig Ihre Produktionskapazität erhöhen. Im Zeitraum 2003-2007 hat sich die türkische Wirtschaft gut entwickelt, und das Geld, das wir aufgenommen haben, hat zu einer Steigerung der Produktivität geführt. Nach 2007 haben wir jedoch gesehen, dass die Kreditaufnahme nicht unbedingt in produktiveren Projekten eingesetzt wurde. 

Die türkische Lira fiel im vergangenen Jahr um 30 Prozent gegenüber dem US-Dollar, was die Importe im Durchschnitt um ein Drittel verteuerte. Aber wenn die Importe teurer werden, werden die Exporte attraktiver. Warum profitiert die Türkei nur moderat von ihren Exporten?

Dies ist auf unsere Produktionsstruktur zurückzuführen, die auf den Import von Vorprodukten angewiesen ist. Wenn der Lira-Wert sinkt, steigen auch die Preise für importierte Vorleistungsgüter. Infolgedessen steigt der Preis für das von uns exportierte Endprodukt auch während der Abschreibungszeiten in Türkischen Lira.

Die Türkei leidet seit Jahren unter einer hohen Inflation. Was sind die Gründe für diese Entwicklung und welche Rolle spielen politische Entscheidungen dabei?

Die türkische Zentralbank war bei der Inflationsplanung nicht sehr erfolgreich. Unser chronisches Leistungsbilanzdefizit ist ein Faktor, der die Zentralbank daran hindert, eine straffe Geldpolitik umzusetzen. Denn wenn die globale Risikobereitschaft hoch ist, wie etwa in der Zeit nach 2010, löst ein hoher Zinssatz der Zentralbank Zuflüsse von kurzfristigen Kapitalzuflüssen aus, was zu Herausforderungen für die Finanzstabilität führt. Daher erwägte die Zentralbank mehrere makroprudentielle Maßnahmen in der Zeit nach der Krise, um die spekulativen Zuflüsse abzubauen und dennoch eine straffe Geldpolitik im Inland aufrechtzuerhalten.

Sie taten dies, indem sie die Zinsen relativ niedrig hielten und die Reserveanforderungen erhöhten oder die Breite des Zinskorridors als politisches Instrument nutzten. Dies alles waren innovative Werkzeuge. Sie reichten jedoch nicht aus.

Vielen Dank für das Gespräch!

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