Deutschland

Offener Brief an Gysi: Eintreten für eine EU der Banken und Konzerne ist nicht Internationalismus

Eine frühere DDR-Bürgerin rechnet in einem offenen Brief an Gregor Gysi mit der EU-Politik der Linkspartei ab und macht keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung über Gysi. Zudem legt sie dar, dass sie '89 zwar auf die Straße ging, aber keine Rückkehr zum Kapitalismus wollte.
Offener Brief an Gysi: Eintreten für eine EU der Banken und Konzerne ist nicht InternationalismusQuelle: www.globallookpress.com © Xinhua/Lu Yang

Der Spitzen-Politiker der Linkspartei, mit dem sie eigenen Angaben zufolge bereits mehrmals schriftlichen Kontakt hatte, habe sie mit seinem "Eintreten für die Europäische Union der Banken und Konzerne" enttäuscht. Das habe mit Internationalismus nichts zu tun. Mittlerweile verfolge die Linkspartei den Kurs, ihre Prinzipien zu verraten, nur um mit den neoliberalen Parteien, die die Agenda 2010 einführten, zu koalieren. RT Deutsch dokumentiert den Offenen Brief im Wortlaut:

Lieber Herr Gysi,

mein Name ist Heidi Langer, ich bin 50 Jahre alt und stamme wie Sie aus der ehemaligen DDR. Als ich 1989 auf die Straße ging, tat ich das nicht, weil ich mein Heimatland in den kapitalistischen Moloch des Wertewestens integrieren wollte, sondern ich tat es, weil ich der Ansicht war, dass die Regierenden der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik sich selbst zu viele Privilegien angeeignet hätten, um als eine sozialistische Regierung weiterhin glaubwürdig zu sein. Ich tat es in dem Wunsch, den Sozialismus als solchen zu stärken und die immer weiter um sich greifende Korruption der Entscheidungsträger, angefangen bei den ganz Kleinen auf betrieblicher und kommunaler Ebene, zu beenden. Jeder, der sich daran erinnert, wie wichtig und wertvoll "Beziehungen" zu jenen Zeiten waren, wird diesen Wunsch sicherlich nachvollziehen können.

Ich glaubte und glaube fest an das System "Sozialismus" und daran, dass er die Vorstufe zum Kommunismus, dem Ziel jeder wirklich linken Politik, ist. Woran ich nicht glaubte, war eine Umsetzung, in der einige Wenige sich auf Kosten der Mehrheit Privilegien und materielle Werte verschafften, denn das ist kein Sozialismus. Das ist nur eine andere, versteckte Form des Kapitalismus, in der eine Elite herrscht und der Rest der Bevölkerung dient.

Um zu verdeutlichen, worauf ich hinauswill: Ja, ich gebe es zu, auch ich war oft unzufrieden mit dem Warenangebot. Aber mir war auch immer bewusst, dass vergleichsweise spottbilliger Wohnraum, spottbilliger Strom, kostenloses Wasser und Abwasser, staatlich subventionierte Nahrungsmittel und Kleidung, kostenfreie Kinderbetreuung, die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte auf Arbeit und Erholung bzw. Wohnen, ein Sozialversicherungssystem, das keine Zuzahlungen kannte, Mindestrenten, spottbillige Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr und viele andere soziale Errungenschaften, die ich hier nicht einzeln aufzählen kann und möchte, schwerer wiegen als ständig Bananen im Konsum oder Pkw für alle.

Ich wuchs auf in einem Land, in dem es in jedem Wohngebiet mehrere Spielplätze gab, heute sind daraus zumeist Parkplätze geworden. Ich habe – notgedrungen – gelernt, Strümpfe zu stopfen und zu klein gewordene Pullover aufzuribbeln und die Wolle erneut zu verarbeiten, und es hat mir nicht geschadet. Ich habe Altstoffe gesammelt und mir so Taschengeld verdient. Ich habe gelernt, im Schrebergarten Gemüse und Obst anzubauen, zu ernten und zu konservieren. In unserer Wohngegend gab es einen regen Tauschhandel, frisches Gemüse aus dem eigenen Garten gegen die Reparatur irgendwelcher Kleidungsstücke oder Elektrogeräte, Obst, frisch vom Baum oder Strauch gegen Hausschlachteprodukte, Hilfe beim Einkellern von Kartoffeln gegen Hilfe beim Kohleschippen oder Malerarbeiten. 

Und wissen Sie was, Herr Gysi? Niemand blieb allein. Die Kinder im Wohnviertel wurden ganz selbstverständlich mitbetreut, wenn deren Eltern unterwegs waren. Die Oma von nebenan wurde ebenso selbstverständlich von den Nachbarn unter die Fittiche genommen, ihre Einkäufe von den anderen Frauen mit erledigt, ihre Fenster geputzt, und in der Hauswoche kam niemand auf die Idee, sie mit auf die Liste zu setzen. Das gehörte sich einfach nicht. 

Wir haben zusammengehalten. Um es einfach auszudrücken: Der eine besaß den Hammer, der zweite hatte Nägel und der dritte nannte eine Zange sein Eigen – und daraus wurde etwas gemacht, das allen zugutekam.

Ich bin noch heute der festen Ansicht, dass das wirtschaftliche Niveau der DDR eben jenes Niveau ist, das ein Land ohne jegliche periphere Ausbeutung erreichen kann, durch ausschließlich fairen Handel (oder unfairen zum eigenen Nachteil, wenn es gezwungen ist, sich auf diese Weise die notwendigen Devisen zur Teilnahme am Welthandel zu beschaffen). 

Stimmt, wir waren nicht reich. Pkw in Privatbesitz waren eher die Ausnahme als die Regel. Viele von uns haben bis zur Wende noch regelmäßig Kohlen und Aschkästen geschleppt, einige sogar noch Außentoiletten im Hof benutzt. Aber wir waren auch niemals die Ursache für Not, Leid und menschliches Massensterben, wir waren niemals Aggressoren auf Ressourcenjagd. Stattdessen waren wir solidarisch mit den Opfern westlicher Ausbeutungspolitik, haben den imperialistischen Militarismus angeprangert und für dessen Opfer gespendet. Denn Solidarität, so haben wir es noch gelernt, ist nicht, vom eigenen Überfluss abzugeben. Das nennt man Almosen. Solidarität ist, sich selbst für jemand noch Bedürftigeren einzuschränken.

Das waren die Prinzipien, mit denen ich aufgewachsen bin. Prinzipien, die Sie nicht nur ebenfalls verinnerlicht, sondern sogar mitgeprägt haben sollten, wenn ich Ihr Alter, Ihre Herkunft und Ihren Status zur Zeit der "Wende" in Betracht ziehe.

Sie werden sich sicherlich nicht erinnern, Herr Gysi, aber wir hatten 2014 für einige Zeit Schriftkontakt, Sie haben mir damals zu meinem offenen Brief an Frau Merkel gratuliert und mir mitgeteilt, dass dieser innerhalb Ihrer Partei rege gelesen, kommentiert und geteilt würde. 2015 haben wir erneut per PN über Facebook kommuniziert, damals ging es um die "Mahnwachen für den Frieden" und Ihre Gründe, warum Sie sich dafür nicht engagieren wollten. Ich habe Sie damals so verstanden, dass Sie sich nicht direkt vom Anliegen dieser Mahnwachen distanzierten, aber von bestimmten Inhalten, die von "rechts" in diese Mahnwachen hineingetragen wurden. Das habe ich selbstverständlich respektiert. Mittlerweile muss ich allerdings sagen, dass ich diese Art von Respekt beim besten Willen nicht länger aufrechterhalten kann.

Das möchte ich gern näher begründen: In Ihrer kürzlichen Rede auf dem Bonner Parteitag verwechseln Sie auf geradezu spektakulär-peinliche Weise Internationalismus mit dem Eintreten für die Europäische Union der Banken und Konzerne, denn genau das ist die Politik, die das EU Parlament macht und auch weiterhin machen wird, beraten von Lobbyisten, die den Politikern sagen, welche Art von "Wirtschaftskompetenz" sie zu zeigen haben – und zwar auf Kosten der Sozialkompetenz. Dazu kommt Ihre Polemik bezüglich des Brexit, die Jeremy Corbyn und der britischen Arbeiterklasse schwungvoll in den Rücken fällt. Ein entsolidarisierter Arschtritt sozusagen, kunstvoll ausgeführt von jemandem, der einer linken Partei angehört.

Ja, es stimmt, Herr Gysi, man kann es nicht allen recht machen. Aber es ausgerechnet beim Klassenfeind zu versuchen, hat mit "links" definitiv nicht viel zu tun. Das verwirrt, wenn Sie ganz richtig den Unterschied zwischen Reichtum und Armut thematisieren, insbesondere, weil alles was Sie anregen, diesen Zustand zwangsläufig verfestigen muss. Sie verschweigen nämlich bewusst, dass Ihre Forderung, dass dort versteuert werden sollte, wo die jeweilige Wertschöpfung erfolgt und nicht etwa in Steueroasen, nach Maßgabe der Grundlagenverträge der EU, die einen freien und ungehinderten Kapitalverkehr vorsehen, völlig unmöglich ist.

Ich gebe Ihnen völlig recht in dem Punkt, dass man der Gefahr des starken Rechtspopulismus, dem nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa sich ausgesetzt sieht, widersprechen muss. Aber dann benennen Sie doch bitte auch die neoliberale Politik inklusive mangelnder Sozialkompetenz der EU wahrheitsgemäß als Ursache dieser Gefahr, statt mit deren Akteuren auch noch koalieren und Fraktionsgemeinschaften bilden zu wollen. Denn gerade die Unkenntnis des kausalen Zusammenhangs zwischen Kapitalismus und Armut treibt viele Menschen in die Fänge rechter Parteien. Und wenn Sie die Ungleichheit der Lebensverhältnisse in den einzelnen Ländern anprangern, dann sollten Sie auch nicht verschweigen, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang dem Regime des Euro zukommt, welches Sie aber keinesfalls antasten wollen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, wann und wo Sie Ihre Kenntnisse im Bereich Marxismus-Leninismus vergraben haben, aber eines steht für mich mittlerweile fest; Sie wissen ganz genau, dass eine politische Systemänderung über das Konstrukt der repräsentativen Demokratie absolut unmöglich ist. Und Ihnen ist ebenso bewusst, dass das kapitalistische System aufgrund seiner Dynamik und der damit zwangsläufig verbundenen wachsenden Armut und Verelendung nicht reformierbar ist, selbst wenn eine "linke" Mehrheit im EU-Parlament und in allen Landesregierungen säße, was mit dem Erstarken des rechten Populismus ohnehin jeder Wahrscheinlichkeit entbehrt.

Die fatale Entscheidung, die aggressive militaristische Ausrichtung der EU nicht mit aller Macht anzuprangern und zu bekämpfen, weil ja "rechts" das tut, ist eine Bankrotterklärung einer LINKEN, die einmal für Friedenspolitik stand und sich aus Überzeugung vehement den Bundeswehrauslandseinsätzen widersetzt hat – insbesondere angesichts der westlichen Drohgebärden gegen die Russische Föderation und die ständig wachsende Gefahr einer militärischen Eskalation.

So wie ich das sehe, rutscht "links" aktuell immer mehr in das Vakuum, das eine neoliberal agierende SPD in der Ausrichtung der deutschen Parteienlandschaft hinterlassen hat – und damit schließt sie sich dem allgemeinen Rechtsruck an, statt einen starken Gegenpol zu bilden. Sie ersetzt quasi eine SPD, die sich vor jeder Wahl betont sozial präsentiert, um anschließend sofort wieder in die vergötterte "Wirtschaftskompetenz" des Seeheimer-Klüngels zurückzufallen, was sie vermutlich zum Gegenstand von mehr Witzen macht, als über die AfD gerissen werden, von der eingebüßten Glaubwürdigkeit mal ganz abgesehen.

Ob die merkwürdig unbedarft anmutende Taktik der LINKEN, den Wahlkampf gleich mit einer Anbiederung an die neoliberale Politik zu führen, allerdings besser ist, überlasse ich der Entscheidung der Wähler. Vorstellen kann ich es mir nicht.

Lieber Herr Gysi, meine Enttäuschung ist grenzenlos. Ich fühle mich von Ihnen und Ihrer Partei als sozialistisch vorgebildete Bürgerin nicht vertreten. Und ich muss mich darüber hinaus mit der Erkenntnis auseinandersetzen, dass die einzige "linke" Kraft hierzulande, die im Bundestag vertreten ist, auf Teufel komm raus ausgerechnet mit jenen Parteien koalieren will, welche mit der Agenda 2010 und der Schaffung des Niedriglohnsektors, mit ihrer Rentenpolitik und ihrer "Wirtschaftskompetenz" hierzulande die Armut und die Vermögensumverteilung befeuert haben und weiterhin befeuern werden. Mit Parteien, die bereits bewiesen haben, dass sie wirklich "linke" Politik weder jetzt noch später in Erwägung ziehen werden. Damit haben Sie und Ihre Partei Ihr Klassenbewusstsein an der Garderobe abgegeben, um sich im Innern des Tempels der Macht am Gerangel um lukrative Posten zu beteiligen. 

Und nebenbei fördern auch Sie das Erstarken des Rechtspopulismus, indem Sie die Opfer neoliberaler Politik Parteien und Organisationen wie der AfD oder irgendwelchen GIDAs überlassen, statt mit ihnen und für sie den Klassenkampf gegen das imperialistische, militaristische Ausbeutungssystem zu führen.

Ich prophezeie der PdL an dieser Stelle das gleiche Schicksal wie einer SPD, die sich als neoliberale Drückerkolonne erwiesen hat. Schade um das Potenzial, aber im Innern bourgeoise Parteien werden wohl der Verantwortung niemals gerecht werden können, die ihre Namen symbolisieren. Ich hätte mir gewünscht, mehr erwarten zu können, sowohl von Ihrer Partei als auch von Ihnen persönlich.

Heidi Langer
25.02.2019

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