Deutschland

Nach JA zur erneuten GroKo: Die alte Tante SPD macht sich auf den Weg zum Hospiz

Die SPD hat sich entschieden. Sie wird Koalitionsverhandlungen aufnehmen und eine weitere, nicht mehr ganz so Große Koalition anstreben. Eine Entscheidung, für die die SPD massiv von den Wählern abgestraft und um ihren einstigen "Markenkern"beraubt wird.
Nach JA zur erneuten GroKo: Die alte Tante SPD macht sich auf den Weg zum Hospiz Quelle: Reuters

von Gert-Ewen Ungar

Die Wahlergebnisse der drei Parteien waren ein Desaster. Doch allen Bekenntnissen zum Trotz haben es die Großkoalitionäre, allen voran die SPD, nicht geschafft, daraus die einzig stichhaltige Lehre zu ziehen: Es bedarf einer radikalen Neuausrichtung der eigenen Politik. Es ist ja nicht so, dass die Problematik nicht allen offenkundig wäre. Die Krisen Deutschlands und der EU liegen ja nicht zentral an der Ausweitung der Leiharbeit oder der sachgrundlosen Befristung, einen Ausdruck, den sowohl Nahles als auch Schulz offensichtlich vor dem Spiegel eingeübt haben, damit sie ihn möglichst flüssig wiedergeben können.

All das sind lediglich Symptome und Details einer Krise, die ihre Ursache in etwas anderem hat. Die Krise hat ihre Ursache in der Preisgabe eines wichtigen Steuerungsinstrumentes. Die Politik hat sich in den vergangen Jahrzehnten die Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung abschwatzen lassen und sie den Märkten, Konzernen, Oligarchen und Lobbygruppen übertragen. Und das ohne Not. Das war ein unglaublicher Betrug am Wähler, ein historischer Fehler. Und es war allen voran die SPD, die in radikaler Weise die Republik in diesem Sinne neoliberal und marktradikal umgestaltet hat. Alle Macht den Märkten! Das Ergebnis war vorhersehbar - das Ergebnis ist eine einzige Katastrophe.

Aus irgendeinem Grund entwickelt sich ein freier und unregulierter Kapitalismus krisenhaft. Was für eine Überraschung! Zumindest für die SPD. Das ist allerdings sein wesentliches Merkmal. Und welche unter den Parteien, wenn nicht die SPD, hätte das wissen können? Es war ihr Gründungsanlass. Verarmung und Abstiegsängste, Entsolidarisierung der Gesellschaft, Zunahme von Korruption, Zerfall der EU sind die Ergebnisse. Man könnte diese Aufzählung sicherlich noch stundenlang fortsetzen.

Gerade die SPD müsste es besser wissen, schließlich verfügte sie einmal über wirtschaftspolitische Kompetenz. Wenn man ein Steuerungsinstrument in der Hand hält, gibt man es nicht her. Und man überreicht es als Demokrat schon gar nicht völlig undemokratischen Institutionen wie den „Märkten” und irgendwelchen Konzernen. Es war eine ausgesprochen große historische Dummheit, dies zu tun. Sicherlich: Es fing unter Kohl an. Doch dieser Prozess verschärfte sich vehement unter Schröder und wird in dieser Schärfe weiterhin unter Merkel und ihren großen und kleinen Koalitionen exekutiert.

Dass ausgerechnet die SPD ihre wirtschaftspolitische Kompetenz zugunsten einer sehr einfältigen Ideologie preisgegeben hat, enttäuscht nicht nur ungemein. Dass sie nach nunmehr fast zwei Dekaden ihren Fehler immer noch nicht einsieht, macht vor allem wütend. Verständlicherweise wütend. Denn es war die SPD, die den Umbau der Gesellschaft maßgeblich mit vorangetrieben hat. Weg vom Wohlfahrtsstaat, den wir uns nach wie vor leisten könnten, wenn wir es politisch denn wollten, hin zu einer Gesellschaft, in der jeder seines Glückes Schmied ist. Man könnte es auch anders sagen: In der jeder seines Nächsten Konkurrent und ökonomischer Feind ist. Das war ganz zentral das Werk der SPD, die jetzt an so einem marginalen Thema wie der sachgrundlosen Befristung versucht, ein angeblich vorhandenes soziales Profil zu vermarkten. Dass es das gar nicht gibt, fällt doch erstens auf und so zu tun, als wäre es vorhanden, ist zweitens zynisch gegenüber den Bürgern.

Dabei gibt es, wenn der Staat die Kontrolle über die Wirtschaft behält, die Möglichkeit für von Krisen weitgehend freie ökonomische Entwicklung. Dann treiben die Konzerne nicht die Politik vor sich her, sondern die kontinuierlich steigenden Löhne treiben die Konzerne vor sich her, treiben sie in die Innovation und den Produktivitätszuwachs.

Nach dreißig Jahren Neoliberalismus und radikaler Liberalisierung von Märkten, an dem die SPD maßgeblich beteiligt war, kann das Ergebnis doch nur lauten: Das war ein Fehler! Wir haben einen großen Fehler auf Kosten der Bürger nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa gemacht. Wir müssen das umgehend korrigieren!

Diesen Weg der Einsicht und Umkehr wird die SPD auch dieses Mal nicht beschreiten. Der Vorstand hat sich durchgesetzt. Es wird eine weitere Legislaturperiode geben, in der irgendeine Erhöhung des Mindestlohns um ein paar Cent als grandioser Erfolg gegenüber der CDU gefeiert werden wird, in der die weitere Beschneidung kleinerer und schlagkräftiger Gewerkschaften als unabdingbar für das wirtschaftliche Wohl der Republik verkauft werden wird, in der die anstehenden neoliberalen Reformen durch den Partner des SPD-Vorstandes Macron in Frankreich als Beispiel dafür herhalten müssen, dass auch wir jetzt, um konkurrenzfähig bleiben zu können, den Gürtel wieder mal enger zu schnallen haben.

Nicht ganz so eng wie die CDU das wollte, aber eben doch schon deutlich. Und Frau Nahles und Herr Schulz werden wieder beleidigt nicht verstehen, warum diese vermeintlichen Erfolge sozialdemokratischen Verhandlungsgeschicks und die Euphorie, mit der sie das alles vortragen, so wenig begeisterten Widerhall in der Bevölkerung und bei den Wählern finden.

Politik muss das Primat über die Wirtschaft zurückerlangen. Alles andere treibt uns immer tiefer in die Krise. Die Bürger haben das verstanden, Teile der SPD auch, überraschenderweise vor allem der Nachwuchs. Das gibt Hoffnung. Immerhin hat das der gestrige Parteitag gezeigt. Doch der SPD-Vorstand und mit ihm führende Gewerkschafter sind von dieser Einsicht offensichtlich weit entfernt und bereit, die SPD untergehen zu lassen. Denn Untergang wird der Preis sein, der für Unvernunft und mangelnde Einsicht zu zahlen ist.

Was es braucht, ist eine neue internationale Zusammenarbeit sozialdemokratischer und sozialistischer Kräfte in Europa, die mit dem Neoliberalismus grundlegend brechen. Macron ist hierfür ganz sicher der falsche Mann. Corbyn wäre es und Melenchon, um nur zwei mögliche Kooperationspartner in Europa stellvertretend zu nennen. Es gibt die Alternative ja wieder in Europa, und ihr schließen sich immer mehr an, die eine kräftige und fundamentale Korrektur der Fehlentwicklungen der letzten Dekaden wollen. Die SPD müsste sich nur zu ihren Fehlern bekennen und umsteuern.

Und auf nationaler Ebene ist es sicher nicht die CDU, die hier zu einer Korrektur bereit ist. Die CDU hat aufgrund eines gravierenden Mangels an wirtschaftspolitischer Kompetenz die aktuelle Krise noch nicht einmal in ihren Ansätzen verstanden. Die CDU ersetzt seit Gründung der Republik wirtschaftspolitischen Sachverstand durch Nähe zur Wirtschaft. Das ist allerdings kein Ersatz, sondern lediglich ein Weg in Vetternwirtschaft und Korruption. An Beispielen für die Richtigkeit der These mangelt es in der Geschichte der CDU nicht. Wirtschaftspolitische Kompetenz findet sich links, denn es ist das zentrale Thema linker Bewegungen, ihr Gründungsanlass.

Dass eine Umkehr möglich ist, zeigt nun ausgerechnet Russland. Nach dem neoliberalen Durchmarsch unter Jelzin ist es der russischen Politik gelungen, wieder die Kontrolle über die entfesselten Marktkräfte zurückzuerlangen. Privatisierungen wurden rückgängig gemacht, der Sozialstaat wieder installiert, der Einfluss der Oligarchie beschnitten. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, das ist richtig. Aber der Weg ist klar. Das ist übrigens auch der Grund, warum in der westlichen Presse Russland so ein schlechtes Standing hat. Es ist das Beispiel, dass es eben doch eine Alternative zur Alternativlosigkeit gibt.

Natürlich ist die Rückbesinnung auf einen starken Staat, der die Macht der Konzerne einhegt und ihnen den Takt vorgibt, nicht die Überwindung des Kapitalismus, von dem einige träumen. Es macht allerdings für die Menschen den Kapitalismus weitgehend krisenfest und das Leben planbar. In den so entstandenen Freiräumen lässt sich dann auch auf gesellschaftlicher Ebene klarer darüber nachdenken, in welche Richtung man sich gemeinsam entwickeln möchte.

Es bleibt allerdings nur noch wenig Zeit, denn die neoliberalen Dekaden haben bereits großen Schaden angerichtet. Eine weitere Legislaturperiode mit einem „Weiter so“ werden die Bundesrepublik und die EU sicherlich irreparabel beschädigen. Doch die SPD hat gestern vermutlich nicht nur ihren eigenen Untergang, sondern auch den Untergang des Projektes eines friedlichen Zusammenwachsens in Europa gewählt, das seinen Bürgern Wachstum und Wohlstand nicht nur verspricht, sondern tatsächlich auch bringt.

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